Deutsche Klassiker vs englische Klassiker

Es gibt 20 Antworten in diesem Thema, welches 4.615 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von Keshia.

  • Zitat

    Ich persönlich hatte immer den Eindruck, dass die deutschen Klassiker, die ich in der Schule lesen sollte (gefühlt) viel älter waren als die englsichen. Die englischen waren mir immer viel näher, vielleicht auch, weil viele davon (Dickens, Austen) auch öfter mal im Fernsehen gezeigt werden?


    Keine Ahnung, wie der Eindruck entstand. Bis heute assoziiere ich mit deutschen Klassikern "staubig, schwierig" und mit englischen "interessant". :rollen:


    Ausgehend von Keshias Aussage finde ich eine Diskussion darüber sehr interessant. Geht es euch auch so? Bei Verfilmungen habe ich tatsächlich den Eindruck, dass englische oder amerikanische Klassiker es tatsächlich öfter ins Fernsehen oder Kino schaffen und auch erfolgreicher sind. Sogar französische scheinen öfter vertreten. Woran liegt das? Ist diese Literatur leichter zugänglich als deutsche?
    Beim Lesen geht es mir definitiv so. Ich habe einen viel besseren Zugang dazu, mit Schiller kann ich z.B. nicht viel anfangen, mit Austen dagegen schon. Gut, der Vergleich hinkt, aber es zieht sich generell durch.
    Wie ist das bei euch? Und es darf natürlich gern auch über andere fremdsprachige Klassiker im Vergleich zu deutschen diskutiert werden.

    LG Gytha

    “Dieses Haus sei gesegniget”

  • Der Eindruck stimmt schon. Es hat m. E. mit zwei Faktoren zu tun:


    1. Die englischen Klassiker wie Austen, Dickens, Trollope, Bronte usw. sind von den Themen her eher etwas leichtgewichtiger. Es sind Gesellschaftsromane, sehr häufig mit stark weiblich orientierten Themen. Das macht sie in der Regel recht zugänglich. Jedenfalls zugänglicher als literarische Schwergewichte wie Goethe, Schiller, Kleist, Novalis o.ä. Und grundsätzlich ist es natürlich schwer, einen Austen-Roman, in dem es vor allem darum geht, wer wen kriegt, mit einem großen idealistischen Gedankendrama von Schiller überhaupt zu vergleichen. Da liegen Welten dazwischen. Wenn man dann in die englische Hochliteratur (Shelley, Blake usw.) geht, wird es auch etwas weniger zugänglich. Aber insgesamt würde ich behaupten: die englische Literatur des 19. Jahrhunderts haut kaum Kaliber wie Goethe, Kleist, Stifter oder Fontane zu bieten. Ich nehme allerdings gerne Gegenvorschläge entgegen. :zwinker:


    2. Meist werden die englischen Klassiker in Übersetzungen gelesen, die deutschen Klassiker natürlich im Original. Die Übersetzungen sind meist jüngeren Datums, also sprachlich aktueller und weniger antiquiert. Ich bin sicher: läsen wir die englischen Klassiker im Original oder in Übersetzungen aus ihrer Zeit, wirkten sie auch sprachlich antiquierter.

    Einmal editiert, zuletzt von Tomke ()

  • Bei Verfilmungen habe ich tatsächlich den Eindruck, dass englische oder amerikanische Klassiker es tatsächlich öfter ins Fernsehen oder Kino schaffen und auch erfolgreicher sind. Sogar französische scheinen öfter vertreten. Woran liegt das?


    Am Geld. Engländer, US-Amerikaner oder Franzosen buttern mehr Geld in ihre Produktionen. Das ist zwar kein hundertprozentiger Garant für Erfolg, erleichtert ihn aber ungemein.


    Und grundsätzlich ist es natürlich schwer, einen Austen-Roman, in dem es vor allem darum geht, wer wen kriegt, mit einem großen idealistischen Gedankendrama von Schiller überhaupt zu vergleichen.


    Sagen wir so: Die Engländer lassen sich leichter auf einer weniger philosophischen Ebene lesen als die Deutschen. Bei Austen z.B. geht es um weit mehr, als darum, wer wen kriegt. Aber diese Ebene ist weniger offensichtlich und stört daher viele Leser gar nicht. Bei Schiller komme ich nicht darum herum, sie wahrzunehmen.


    Wie man Trollope verstehen kann, wenn man keine Ahnung von der Geschichte der anglikanischen Kirche hat, weiss ich nicht.


    Da liegen Welten dazwischen. Wenn man dann in die englische Hochliteratur (Shelley, Blake usw.) geht, wird es auch etwas weniger zugänglich.


    Dem ist so. Kommt hinzu, dass Dickens bis heute den (sein Spätwerk ausgenommen) völlig unverdienten Titel eines grossen Autors und Klassikers trägt. Dabei sind seine bekannten Werke wie Oliver Twist oder David Copperfield nur unterträglich breit gewalzte, sentimentale Schinken, wie sie auch Karl May produzierte. Wie viel nüchterner und präziser kommt da Fontane daher! (Selbst Raabe, der auch eine sentimentale Phase hatte, ist besser.)

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen. (Karl Kraus)


  • Der Eindruck stimmt schon. Es hat m. E. mit zwei Faktoren zu tun:



    2. Meist werden die englischen Klassiker in Übersetzungen gelesen, die deutschen Klassiker natürlich im Original. Die Übersetzungen sind meist jüngeren Datums, also sprachlich aktueller und weniger antiquiert. Ich bin sicher: läsen wir die englischen Klassiker im Original oder in Übersetzungen aus ihrer Zeit, wirkten sie auch sprachlich antiquierter.


    Hm, also ich lese sie im Original und finde trotzdem die Sprache noch deutlich zugänglicher als die der deutschen Klassiker, die ich aus der Schule erinnere (Ausnahme: "Faust" und "Homo Faber" boten keine Probleme, wobei letzteres ja auch etwas jünger war).
    Mit zugänglicher meine ich die Motivation, das Buch weiterzulesen oder ein zweites Mal zu lesen, auch wenn/ weil man beim ersten Mal nicht alles verstanden hat.
    Bei den deutschen Klassikern hatte ich oft das Gefühl, dass einfache Handlungsstränge und "Aussagen" in gefühlt leider verstaubte und sperrige Sprache gepackt wurden.


    Mag sein, dass gerade dieser Eindruck weniger im Englischen ensteht, weil Englisch NICHT meine Muttersprache ist, dass ich also mit anderen Erwartungen an das Buch gehe.



    Auf meinen Reader habe ich mir jede Menge kostenloser Bücher gezogen - alles englische Klassiker.
    Möglicherweise habe ich gegen die deutschen (Klassiker :zwinker:) ja auch nur Vorurteile. :gruebel:
    Wenn, dann vermutlich weil ich in der Schule zu den meisten im Deutschunterricht gelesen Werken keinen Zugang fand.
    Vielleicht wurden Werke, für die ich mich später interessiert hätte, einfach zu früh im Unterricht behandelt?
    Aus meinem Bekanntenkreis kenne ich einige, die sich nach der Schule die im Unterricht gehassten Bücher gekauft und gelesen haben oder Bücher wie "Alles was man lesen muss" etc.
    Das Interesse kam dann eher mit Anfang bis Mitte 20 als mit 15.



    LG von
    Keshia

    Ich sammele Kochbücher, Foodfotos und Zitate.


    <3 Aktuelle Lieblingsbücher: "The good people" von Hannah Kent, "Plate to pixel" von Hélène Dujardin und "The elegance of the hedgehog" von Muriel Barbery.

    Einmal editiert, zuletzt von Keshia ()


  • Ich bin sicher: läsen wir die englischen Klassiker im Original oder in Übersetzungen aus ihrer Zeit, wirkten sie auch sprachlich antiquierter.


    Ich lese sie meist im Original und komme trotzdem besser damit klar als mit vielen deutschen Klassikern (Ausnahmen bestätigen die Regel). Woran das genau liegt, kann ich spontan nicht genau sagen. Nur eins: ich empfinde antiquierte englische Sprache aus unerfindlichen Gründen als schöner und "lesbarer" als antiquierte deutsche Sprache (Ausnahmen ... siehe oben).

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • @Tomke


    Hm...wie das mit den Übersetzungen ist, kann ich nicht beurteilen, aber wenn ich sehe, wie viele hier im Forum Austen oder Gaskell im Original lesen, kann es nicht allzu wild sein. :zwinker: Wie das mir den Franzosen aussieht, weiß ich gar nicht.


    Dass die Themen leichtgewichtiger sind, empfinde ich auch so. Fontane würde ich übrigens ausnehmen, den finde ich nun sehr leicht zugänglich, auch wenn ich nur 3 Bücher von ihm kenne.


    sandhofer


    Meinst du wirklich, das liegt nur daran? Ich kann mir das nicht vorstellen...und sicher sind deutsche klassiker auch verfilmt worden, ich habe aber den Eindruck, dass das nicht sonderlich viel Interesse hervorruft, international schon gar nicht.

    LG Gytha

    “Dieses Haus sei gesegniget”

    Einmal editiert, zuletzt von Gytha ()


  • Meinst du wirklich, das liegt nur daran? Ich kann mir das nicht vorstellen...und sicher sind deutsche klassiker auch verfilmt worden, ich habe aber den Eindruck, dass das nicht sonderlich viel Interesse hervorruft, international schon gar nicht.


    Mir fallen spontan recht wenige neuere Verfilmungen deutscher Klassiker ein, nur so eher angestaubtes, älteres Zeug :gruebel:

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    Leonard Cohen





  • Dem ist so. Kommt hinzu, dass Dickens bis heute den (sein Spätwerk ausgenommen) völlig unverdienten Titel eines grossen Autors und Klassikers trägt. Dabei sind seine bekannten Werke wie Oliver Twist oder David Copperfield nur unterträglich breit gewalzte, sentimentale Schinken, wie sie auch Karl May produzierte. Wie viel nüchterner und präziser kommt da Fontane daher! (Selbst Raabe, der auch eine sentimentale Phase hatte, ist besser.)


    Diese Frage finde ich sehr interessant und auch für den Unterricht relevant:


    Was macht ein Buch zu einem "Klassiker" oder "literarischen Werk"?
    Wie ändert sich diese Einstellung mit der Zeit (nicht alle Bücher, die früher als lesenswert und hochkarätig galten, werden heute noch so gesehen).
    Warum lesen wir im Unterricht genau dieses Buch dieses Autors? Warum nicht ein anderes vom ihm? Oder eines mit ähnlicher Thematik/ ähnlichem Stil, nur von einem anderen Autor?


    Solche Fragen wurden bei mir im Unterricht nie angesprochen; man kam auch nicht darauf, sie selbst zu stellen, vielleicht, weil man sich dann schon als "Banause" gefühlt hätte? :gruebel:


    Oft bekommt man als Schüler doch ein Buch oder Gedicht oder eine Kurzgeschichte vorgelegt und dann "interpretier mal!"
    Eventuell gibt es noch etwas Hintergrundinformationen zu Verfasser, Zeit, Rezeption, Stil.


    Selten wird aber wirklich erklärt, warum diese Werk jetzt und hier (noch) gelesen wird, warum es aus der Flut der anderen, vergessenen Werke (und Verfasser) die Zeit überdauert hat, was genau denn daran "wertvoller" oder "wichtiger" ist als an aktuellen Bestsellern. Oft traut sich auch keiner, das zu fragen.
    Ich habe mal ein kleines Buch gelesen "Große Kunst mit kleinen Fehlern".


    Darin wurde in sympathischer Weise beschrieben, was entweder wirklich bei einigen Bildern schief gelaufen ist oder warum das von heutigen Betrachtern so gesehen werden könnte (z.B. unverhältnismäßige Körperportionen, Goethe mit den zwei linken Schuhen etc.).
    So etwas müsste auch angesprochen werden dürfen; man liest ein Buch aufgrund eines bestimmten Aspektes z.B. weil der Inhalt zur Zeit der Veröffentlichung revolutionär war, aber man kann andere Aspekte durchaus kritisieren, z.B. Spannungsbogen oder sprachliche Aspekte.
    Meist hat man aber aus Ehrfurcht vor dem "Klassiker" Bedenken, diese Punkte anzusprechen, weil man glaubt, sich selbst damit zu disqualifizieren. Was man als komisch, unpassend etc. empfindet, hat sicher einen unbekannten Grund und würde nur auf die eigene Unzulänglichkeit verweisen.


    LG
    von Keshia

    Ich sammele Kochbücher, Foodfotos und Zitate.


    <3 Aktuelle Lieblingsbücher: "The good people" von Hannah Kent, "Plate to pixel" von Hélène Dujardin und "The elegance of the hedgehog" von Muriel Barbery.

  • Valentine


    Mir auch nicht und das will mir nicht in den Kopf. Es sei denn, es ist eben doch so, dass das einfach niemanden interessiert oder nicht so viele. Ein gutes Beispiel ist doch "Die Buddenbrooks", da schaltet kaum jemand ein.

    LG Gytha

    “Dieses Haus sei gesegniget”

  • Naja bei den Verfilmungen spielt auch eine Rolle das deutsche Klassiker im Ausland einfach nicht so bekannt sind.
    Ich kenne z.B keinen Engländer der mit Schiller oder gar Goethe auch nur leise etwas anfangen kann. Andererseits kenne ich z.B auch keine spanischen Klassiker oder gar Schwedische, Finnische usw. Ich denke es kommt hier also auch schon auf die Dominanz eines ganz bestimmten Marktes an und nicht nur auf die Frage nach dem "Wert" eines Buches und seiner Verfilmung. Und dann kommt ja auch noch das Interesse des Publikums in Deutschland .Wenn der Eindruck entsteht das man sich eben eher für ausländische Verfilmungen interessiert, verfilmt man eben auch nicht groß irgendwelche Literatur aus dem eigenen Land. (Und das Geld spielt dabei natürlich auch eine Rolle)
    Übrigens gibt es von "Kabale und Liebe" durchaus eine neuere Verfilmung von 2005. Das ist jetzt aber auch die einzige Verfilmung die mir einfällt (gut da wäre noch die neuere Buddenbrooks Verfilmung, aber ob man bei Thomas Mann schon von Klassiker Spricht ist ja so eine Sache der Einordnung ;) )


    Dickens wurde sicher auch deshalb zum Klassiker weil er sich weiter gut verkauft hat und die Verfilmungen diverser Werke ihn immer wieder neu ins Gedächtnis gebracht hat. Er war aber auch schon zu Lebzeiten ein Bestsellerautor, das darf man dabei nicht vergessen. Er wurde recht alt und hatte durch sehr viele Romane und Lesetouren die Möglichkeit sich auch in Amerika zu etablieren.


    Ansonsten bin ich nach wie vor der Meinung das ein Buch eben vor allem deshalb zum Klassiker wird, weil einerseits bestimmte Menschen das so einordnen (z.B Literaturwissenschaftler) aber auch Leser empfinden das ein Buch noch etwas zu sagen hat, weit über die Entstehungszeit hinaus. (Sicher ein Grund weshalb Rezeption auch in den Kulturwissenschaften einen hohen Stellenwert hat.)

  • Naja bei den Verfilmungen spielt auch eine Rolle das deutsche Klassiker im Ausland einfach nicht so bekannt sind.
    Ich kenne z.B keinen Engländer der mit Schiller oder gar Goethe auch nur leise etwas anfangen kann.


    So wenig wie der Deutsche mit den Lyrikern Shelley, Blake, Browning ... Tomke hat bereits darauf hingewiesen: Es sind v.a. die Romanciers, die man meint, wenn man von englischen Klassikern spricht - und die dann mit deutschen Lyrikern vergleicht. Denn Goethe ist Lyriker, Schiller Dramatiker. Wer kennt Byrons Don Juan?


    Andererseits kenne ich z.B auch keine spanischen Klassiker [...]


    Den Don Quijote, hoffe ich, zumindest schon...


    Dickens [...] wurde recht alt [...]


    58. Dann müsste Ernst Jünger, der fast doppelt so alt geworden ist, selbst bei den Marsmenschen berühmt sein.


    Harry Heine ist übrigens in Frankreich nach wie vor ein literarischer Superstar. Ebenso wie in der Philosophie ein Husserl, ein Heidegger, ein Nietzsche, die man in Deutschland mittlerweile nicht mehr kennt (nicht mehr kennen will). Ähnliches gilt für Stefan Zweig und Hermann Hesse in Brasilien. (Weil: Was auch noch hinzukommt - Zweig und Hesse sind einfacher zu übersetzen als Goethe oder Schiller...)

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen. (Karl Kraus)

  • sandhofer
    Klar Don Don Quijote, aber sonst? Da wird es ja wohl mehr geben.
    Gut stimmt, wobei Stefan Zweig auch deshalb in Brasilien ein Begriff ist, weil sein Exil ihn dorthin verschlagen hat. Es kommt also nicht zwingend aus heiterem Himmel ;)
    Übrigens habe ich nur geschrieben, das Dickens sehr viel Zeit hatte, sich als Autor auch außerhalb Englands zu etablieren. Nicht aber das dies ein Faktor für seinen Klassikerstatus wäre. Ich denke hier wird ihm vor allem von der Literaturwissenschaft eine große Bedeutung zugeschrieben.


  • So wenig wie der Deutsche mit den Lyrikern Shelley, Blake, Browning ... Tomke hat bereits darauf hingewiesen: Es sind v.a. die Romanciers, die man meint, wenn man von englischen Klassikern spricht - und die dann mit deutschen Lyrikern vergleicht. Denn Goethe ist Lyriker, Schiller Dramatiker. Wer kennt Byrons Don Juan?


    Den Don Juan kenne ich zwar (noch?) nicht, aber ziemlich viele englische Gedichte ;)

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Was ich sagen will: Dickens und Austen sind v.a. um ihrer sentimentalen Seiten wegen berühmt geworden. Ihre Bücher enden in Happy Endings. Die, wo das nicht der Fall ist (wie bei Dickens' späten Romanen), kennt man auch in England weniger bis gar nicht. Nur die Literaturwissenschaft kennt gerade die. (Am schlimmsten in puncto Sentimentalität ist ja A Chrismas Carol - eines der wenigen Bücher, die ich bei mir separat aufstellen muss, in einer grossen Plastikwanne, um all den Schmalz aufzufangen, der immer wieder daraus trieft...)


    À propos spanische Klassiker: Calderóns La vida es sueño / Das Leben ist Traum sollte mindestens vom Namen her jedem ein Begriff sein. Aber es ist tatsächlich so, dass wir Mitteleuropäer die spansichen oder portugiesischen Klassiker wenig bis gar nicht kennen. Genau so wenig wie die finnischen. Während grössere, pekuniär-politisch einflussreichere Nationen uns ihre Klassiker problemlos weitervermitteln können oder konnten. Deshalb kennen wir die (alten) Engländer, die modernen US-Amerikaner, deshalb kennen wir all' die Russen. Aber wenn Frau Merkel so weiter agiert, werden deutsche Klassiker und Gegenwartsautoren wieder mehr gelesen werden im Ausland. :zwinker:

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen. (Karl Kraus)

  • Stimmt, die politische Dimension hat natürlich auch einen großen Einfluss.
    Und was das sentimentale angeht... könnte schon damit zusammenhängen. Aber ist sicher nicht der einzige Grund.


    (Ich stell mir grad Sanhofers Schmalzwanne vor - aber es stimmt, mir ist es z.B zu kitschig, allerdings mag ich die Muppets Weihnachtsgeschichte *gg*)

  • Vieles von dem, was sandhofer und @Tomke schreiben, sehe ich auch so.


    Aber doch noch einige Anmerkungen:


    1. möchte ich betonen, dass ich die Romane der Briten nicht für flacher halte. Ich glaube, wir haben es hier mit einem unterschiedlichen Anspruchsdenken an Literatur zu tun. Romane sind nicht deshalb flach, weil sie ein Happy End oder andere Kolportage-Elemente haben, sondern dann, wenn sie das nicht durch etwas aufwiegen, das über sie hinwegweist. Kitsch finden wir auch bei vielen deutschen Autoren, deren literarische Qualitiät unangefochten ist (z.B. Jean Paul, auf den ich gleich nochmal zurückkomme, und Raabe, den sandhofer unten schon erwähnt hat). Eine elegante und spannende "Schreibe" schadet keinem Roman, sie muss nur originell sein und nicht nur aus Versatzstücken bestehen. Spannung und Stil sollten aber in anspruchsvoller Literatur dienen, nicht herrschen.


    2. Aber das, was uns an vielen britischen Romanen (und übrigens auch den großen Russen oder Franzosen) so gefällt, ist, dass die meisten berühmten von ihnen einer Tradition des Gesellschaftsromans bis in die Moderne (z.B. Galsworthy) folgen, die sich in unserer Kultur bis zum 20. Jh. nie so durchgesetzt hat. Woran das liegen mag, ist schwer einzuschätzen, vielleicht auch ein wenig daran, dass die anderen genannten Nationen schon seit Jahrhunderten erfolgreiche (nicht wertend zu verstehen) Nationalstaaten waren, im Gegensatz zu dem Kleinstaatenkonglomerat auf deutschsprachigem Boden.


    3. Wie überhaupt der Roman als literarische Hochform es in der deutschen Sprache lange Zeit sehr schwer hatte. Auch einige Elemente, die Romane erfolgreich machen, wie Ironie und Satire, betrieben nicht viele deutsche Schriftsteller oder wenn, dann mit so einem hirnverdrehenden Sprachwitz wie Jean Paul, dass sich viele heutige Leser davon abschrecken lassen.


    Die bekannte Ausnahme für die Punkte 2 und 3 ist der mehrfach erwähnte Fontane, er ist aber ein Solitär in der deutschen Literatur. Es fällt mir kein anderer Zeitgenosse ein, der ähnlich elegant, witzig und tief zugleich schreibt.


    4. Zu der Anzahl der Verfilmungen und überhaupt zur Bekanntheit der englischsprachigen Literatur ist noch zu sagen, dass die Leitkultur USA da einen massiven Einfluss hat. Durch die gemeinsame Sprache ist die britische Literatur zum kulturellen Hintergrund der USA geworden. Und deshalb werden die britischen Klassiker ganz einfach stärker vermarktet, natürlich auch von Hollywood. Aber auch die britischen Produktionen werden ja sehr häufig direkt für den Weltmarkt und nicht so sehr für den einheimischen Markt hergestellt.


    5. Dass unsere Klassiker nicht so bekannt sind, mag auch daran liegen, dass wir uns aus bekannten Gründen jahrzehntelang für die Pflege unserer kulturellen Identität geschämt haben und dabei übersahen, dass wir damit auch unsere guten Wurzeln haben verkümmern lassen.
    Ich glaube, es wird erst gerade wieder so ganz langsam guter Ton, auch in der Nachfolgeschaft erfolgreicher britisch-amerikanischer Produktionen, sowohl unsere Geschichte als auch unsere Literatur im medialen Bereich zu präsentieren. Ein Beispiel dafür wäre zum Beispiel der Schiller-Film "Die geliebten Schwestern", der es immerhin zu einer Oscar-Nominierung geschafft hat.


    6. Ach ja, und dann möchte ich noch an einen deutschen Klassiker mit absoluten Pageturner-Qualitäten erinnern, die heute noch genauso gelten wie früher, als sie ganz Europa begeisterten: E.TH.A. Hoffmann!

  • Ich lese sie meist im Original und komme trotzdem besser damit klar als mit vielen deutschen Klassikern (Ausnahmen bestätigen die Regel). Woran das genau liegt, kann ich spontan nicht genau sagen. Nur eins: ich empfinde antiquierte englische Sprache aus unerfindlichen Gründen als schöner und "lesbarer" als antiquierte deutsche Sprache (Ausnahmen ... siehe oben).


    Mein Verdacht ist, dass man sprachliche Veränderungen in einer Nicht-Muttersprache nicht so stark wahrnimmt wie in der eigenen Sprache. Ich weiß aber nicht, ob es dazu Untersuchungen o.ä. gibt. Das ist nur ein Verdacht. Es wäre spannend, mal eine Dickens-Übersetzung des 19. Jahrhunderts mit einer Übersetzung von heute zu vergleichen, um abzuschätzen, wie sehr die Ausdrucksweise 'gealtert' ist.


  • Wie man Trollope verstehen kann, wenn man keine Ahnung von der Geschichte der anglikanischen Kirche hat, weiss ich nicht.


    Das habe ich bei Trollope nicht so als Problem empfunden, allerdings brachte ich auch einiges an Vorwissen mit. Meiner Einschätzung nach unterscheidet sich das Milieu 'Church of England', in dem ein Teil seiner Romane spielt, aber nicht von dem anderer geschlossener gesellschaftlicher Systeme oder Institutionen. Auch wenn einem die Themen, deretwegen man sich in die Haare kriegt, inhaltlich nicht bekannt sein sollten, kann man dem Verlauf der Handlung, der Intrigen und der Konflikte einigermaßen folgen.


    Zitat

    (Selbst Raabe, der auch eine sentimentale Phase hatte, ist besser.)


    Ja, der arme Raabe ist leider gewissermaßen ein Stiefkind und Opfer des Erfolgs geworden, den vor allem sein Roman 'Der Hungerpastor' unter den Nazis hatte. Das hat ihm das liberale Milieu nach 1945 nicht verziehen... Schade drum, denn der Autor ist wirklich lesenswert! Und so herrlich niedersächsisch. :breitgrins:

  • Ich gebe Dir, finsbury, im Grossen und Ganzen recht. Nur noch ein paar Anmerkungen:


    Nationalstaaten [...] im Gegensatz zu dem Kleinstaatenkonglomerat auf deutschsprachigem Boden.


    Das meinte ich (auch) mit dem mangelnden politsch-ökonomischen Einfluss.


    [...] dann mit so einem hirnverdrehenden Sprachwitz wie Jean Paul, dass sich viele heutige Leser davon abschrecken lassen.


    Andererseits finden wir auch bei Swift (einem der Vorbilder Jean Pauls) Ähnliches. Dennoch wird er gelesen und übersetzt.


    Fontane, er ist aber ein Solitär in der deutschen Literatur. Es fällt mir kein anderer Zeitgenosse ein, der ähnlich elegant, witzig und tief zugleich schreibt.


    Der späte Raabe. (War allerdings pessimistischer als der späte Fontane, der eher altersmüde und alterweise scheint. - Gibt es überhaupt einen frühen Fontane?)

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen. (Karl Kraus)