Carl-Johan Vallgren - Geschichte einer ungeheuerlichen Liebe

Es gibt 13 Antworten in diesem Thema, welches 3.941 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von Breña.

  • Ich bin mir nicht sicher, in welches Genre das Buch gehört. Es hat etwas von einem historischen Roman, von einem Thriller, einem Mysterybuch oder einem Liebesroman - also steck ichs mal in "Sonstige Belletristik", weil eine bestimmte Zuordnung einfach schwer möglich ist.


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    Inhalt
    Europa im 19. Jhd.: Hercule Barfuss wird in einer stürmischen Winternacht geboren, zeitgleich mit Henriette Vogel. Doch im Gegensatz zu dem wunderschönen Mädchen ist Hercule vollkommen entstellt. Beide wachsen zusammen in einem Bordell auf und sind bald unzertrennlich. Die Schließung des Freudenhauses zwingt sie jedoch dazu, sich voneinander zu lösen, Hercule landet im Irrenhaus und Henriette in einem anderen Bordell. Fortan ist Hercules einziges Lebensziel, das Mädchen wiederzufinden. Er wandert durch ganz Europa und mit seiner ungewöhnlichen Gabe, in die Gedanken anderer einzudringen, fasziniert und verstört er gleichermaßen. Doch wird Hercule seine Geliebte je wieder sehen oder wird er vorher an seinem Äußeren und seiner Gabe zugrunde gehen?


    Meine Meinung
    Das war mal wieder ein Buch, das viel zu lange auf meinem SuB gelegen hat. Hercule ist eine faszinierende Person, mit der ich gerne noch um einiges länger quer durch Europe gereist wäre.
    Auch wenn sich die Beschreibung so anhört, handelt es sich bei dem Buch keinerfalls um eine reine Liebesgeschichte. Hercule ist zwar auf der Suche nach seiner großen Liebe Henriette, aber diese Suche bringt ihn immer wieder mit neuen Menschen zusammen und treibt ihn durch ganz Europa. So begegnet man den Herren der Inquisition, den Mitgliedern eines kuriosen Wanderzirkusses, verarmten Ladys, Mönchen und Mördern. Manche fürchten sich vor Hercule, andere nutzen ihn aus, haben einfach nur Mitleid mit ihm oder bauen eine Freundschaft auf. Man lernt also alle möglichen Menschenschläge kennen, was mir persönlich gut gefallen hat. Leicht hätte der Autor auf die Mitleidsschiene abrutschen können, indem er Hercule nur Schlechtes wiederfahren lässt oder immer wieder auf seine Behinderung hinweist. Aber das Buch ist völlig wertfrei geschrieben und hat, meiner Meinung nach, auch nicht zum Ziel, Verständnis für entstellte Menschen herbeizuführen. Außerdem ist Hercule keine durchweg sympathische und gütige Figur.
    Zu diesem Bild trägt sicherlich auch Hercules Gabe bei. Er kann, taub und stumm wie er ist, über Gedanken mit anderen menschen kommunizieren. Das scheint erst einmal ziemlich verrückt zu klingen, aber diese Gabe fügt sich ohne Probleme in die weitestgehend realistische Handlung ein. Man überlegt nicht, ob das jetzt real oder logisch ist, weil man gar nicht auf die Idee kommt, Hercules Gabe und die Realität zu trennen.
    Wer jetzt glaubt, mit Liebesgeschichte, Historienroman und Mystery seien die Facetten des Buches schon abgedeckt, der irrt sich. Es kommt nämlich noch eine gute Portion Thriller dazu. Wer also zimperlich ist und Brutalität überhaupt nicht abkann, sollte lieber die Finger davon lassen. Man bewegt sich in Bordellen, Irrenanstalten und Gefängnissen, man erlebt die Methoden der Inquisition und die von skrupellosen Mördern. Dass da einiges an Grausamkeit zu finden ist, dürfte nachvollziehbar sein und Vallgren hält sich nicht zurück.
    Der Schreibstil Vallgrens trägt wahrscheinlich einiges zu der Atmosphäre bei. Am Anfang dachte ich mir noch, dass ich das Buch niemals überstehe, aber nach der etwas langweiligen Einleitung liefs richtig gut mit uns beiden. Die Geschichte ist spannend geschrieben und bis zum Schluss kam, zumindest bei mir, keine Langeweile mehr auf. Das Nachwort hat sich dann wieder etwas gezogen, aber was solls.
    Insgesamt ein sehr empfehlenswertes Buch, dessen Aufmachung (zumindest die, die ich hatte) und Titel nicht vom Lesen abhalten sollten.
    4ratten + :marypipeshalbeprivatmaus:

    "Bücher lesen heißt wandern gehen in ferne Welten, aus den Stuben über die Sterne." (Jean Paul)

    Einmal editiert, zuletzt von mondy ()

  • Schön, daß es Dir dann doch gefallen hat :klatschen: Ich hatte seinerzeit diese Ausgabe, die viel hübscher aussieht und auch besser zum Inhalt paßt, finde ich:


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    Mich hat damals vor allem fasziniert, wie – bei aller Unwahrscheinlichkeit – die Geschichte an existentielle Fragen des Lebens und Mensch-Seins rührt, ohne schwülstig, pathetisch, philosophisch oder theologisch zu werden. Das ist schon eine Kunst. Die Grausamkeiten gerade in der zweiten Hälfte hätten für meinen Geschmack auch dezenter ausfallen können. Daher gab's von mir einen leichten Punktabzug, vergeben habe ich seinerzeit aber auch das Äquivalent von


    4ratten + :marypipeshalbeprivatmaus:


    Schönen Gruß
    Aldawen


  • Schön, daß es Dir dann doch gefallen hat :klatschen: Ich hatte seinerzeit diese Ausgabe, die viel hübscher aussieht und auch besser zum Inhalt paßt, ...


    Ja, ich freu mich auch, dass dieses Buch mich so angesprochen hat. :breitgrins: Hätte ich vorher nicht gedacht, sonst hätte ich es wahrscheinlich schon früher gelesen. Das langweilige Cover hat bestimmt dazu beigetragen (sieht irgendwie mehr nach politischen und theologischen Geschwafel aus), dein Cover ist da viel passender und weckt gewisse Erwartungen.



    Mich hat damals vor allem fasziniert, wie – bei aller Unwahrscheinlichkeit – die Geschichte an existentielle Fragen des Lebens und Mensch-Seins rührt, ohne schwülstig, pathetisch, philosophisch oder theologisch zu werden. Das ist schon eine Kunst.


    Da bin ich völlig deiner Meinung, auch wenn ich es nie so hätte ausdrücken können. :smile:

    "Bücher lesen heißt wandern gehen in ferne Welten, aus den Stuben über die Sterne." (Jean Paul)

    Einmal editiert, zuletzt von mondy ()

  • Klingt wirklich interessant - danke für eure Rezis/Gedanken.

    Liebe Grüße JaneEyre

    Bücher haben Ehrgefühl. Wenn man sie verleiht, kommen sie nicht zurück.

    Theodor Fontane

  • Eine Warnung vorweg: Diese Rezi könnte für manche Leser schon zu viel von der Handlung verraten.


    Carl-Johan Vallgren spielt in seinem Roman mit der Faszination des Abscheulichen. Hercule ist durch mehrere Behinderungen gehandicapt und äußerlich entstellt, doch seine kindliche Naivität und vor allem seine Gefühle für die am selben Tag geborene Henriette machen ihn liebenswert. Den Leser gleich an der Geburt dieses wehrlosen Wesens teilhaben zu lassen, ist ein geschickter Schachzug, denn es weckt Beschützerinstinkte.


    Nachdem Hercule auf sich allein gestellt durch die Welt zieht, stellt er bald fest, dass sie sich nicht wesentlich von dem Etablissement unterscheidet, in das er hineingeboren wurde: Jedermann ist auf seinen Vorteil bedacht, nützt Schwächere aus, und wer irgendwie aus der Reihe tanzt, lebt gefährlich, nicht zuletzt durch den Einfluss der Kirche. Doch der Junge kennt es nicht anders, als nur auf sich selbst gestellt zu sein, und boxt sich durch, wobei ihm seine besondere Gabe des Gedankenlesens hilfreich ist.


    Im letzten Drittel des Buches, das durch Hass und Gewalt geprägt ist, rückt Hercule in den Hintergrund. Von seinen Handlungen erfährt man aus zweiter Hand durch die Erlebnisse seiner Opfer und von seinem früheren Schmerz und seinen Emotionen ist nicht mehr viel zu spüren. Es fehlt ein wichtiger Teil, der ihn menschlich machte, was eine gewisse Distanz ihm gegenüber aufbaut. Angesichts der erbarmungslosen Rache, die Hercule nimmt, schwindet das Mitgefühl für ihn zwischenzeitlich dahin. Gleichzeitig macht ihn dieses Unmenschliche wieder glaubhaft.


    Dieses Buch zu beurteilen fällt mir nicht leicht. Es ist selten, dass eine Figur so ambivalente Gefühle in mir weckt, wie Hercule das vermochte. Seine Rache war so brutal, wie man es nur von einem total abgestumpften und hasserfüllten Menschen erwarten würde, und das ist schwer in Einklang zu bringen mit dem Hercule, der sich plötzlich anders besinnt, seinen Feinden verzeiht und ein ganz neues Leben beginnt. Nicht, dass ich es ihm nicht wünsche, seinen Frieden zu finden, aber dieser Wandel vollzog sich zu abrupt. Sprachlich gefiel mir das Buch sehr gut.


    3ratten + :marypipeshalbeprivatmaus:

  • Carl-Johan Vallgren ist, das hat er mit diesem Buch unter Beweis gestellt, ein begnadeter Geschichtenerzähler.


    Genau so sollen gute, unterhaltsame, faszinierende Geschichten erzählt werden, mit wenig Pathos, aber viel Gespür für Charaktere und Schauplätze. Es sind Bücher wie dieses, die mein Lesergemüt erhellen, weil sie kluge Unterhaltung bieten und bei ihnen dennoch das Geschehen im Mittelpunkt steht. Und sie bringen mich zum Zweifeln, warum ich, wenn ich unterhalten werden möchte, so oft zu billigem Schund (den ich für mich selbst so definiere) greife. Aber das liegt wohl auch daran, dass ich selten Romane finde, die mich auf der Ebene der erzählten Handlung derartig mitreißen, und darüber hinaus sich auch keine sprachlichen Schnitzer leisten - denn Vallgren mag das Wort nicht neu erfunden haben, aber sein Stil ist angenehm und weist keine Mängel auf, man kann sich also komplett auf sein modernes Märchen konzentrieren.


    Gestört hat mich einzig die Rahmenhandlung, die ich relativ überflüssig finde, und kurzfristig ließ etwa in der Mitte mein Interesse etwas nach, darum nicht ganz die Höchstnote, aber auch nur knapp daran vorbeigeschrammt:


    4ratten :marypipeshalbeprivatmaus:

    Auch ungelebtes Leben<br />geht zu Ende<br />- Erich Fried

  • Allein der Inhalt klingt schon sehr ansprechend! Ich kann mich sogar noch erinnern die erste Meinung hier gelesen zu haben. Irgendwie ist es dann aber doch aus meinem Gedächtnis verschwunden. Das kommt davon wenn man nicht sofort den Amazonwunschzettel benutzt ;)

  • @Holden:
    Toll, das freut mich! :smile:
    Ich habe es ja damals nach mondy's Rezi direkt auf die Wunschliste verfrachtet und es hat sich ausgezahlt! :breitgrins:

    Auch ungelebtes Leben<br />geht zu Ende<br />- Erich Fried

  • Jetzt wo ich das wieder lese... stimmt, das klang so toll... gleich mal ein Lesezeichen setzen

    Liebe Grüße JaneEyre

    Bücher haben Ehrgefühl. Wenn man sie verleiht, kommen sie nicht zurück.

    Theodor Fontane

  • Nach mehr als zehn Jahren habe ich diesen Roman vom SUB erlöst und bleibe nach spannender Lektüre, die mich kaum vom Buch wegließ, dennoch ambivalent zurück.

    Den Inhalt und die positiven Seiten hat ja mondy oben schon sehr gut dargestellt.

    Im ersten Drittel hatte ich das Gefühl, der Roman könne sich zu etwas Größerem als einem sprachlich und handwerklich meist gut gelungenen Unterhaltungsroman entwickeln: Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts mit all ihren Widersprüchlichkeiten, ihren Verheißungen und Rückschlägen, erstand von meinem inneren Auge, und Hercules Gabe des Gedankenlesens eröffnete romantechnisch interessante Gestaltungsmöglichkeiten. Doch dann beschlich mich das Gefühl, das sich auch bis zum Ende nicht wieder auflöste, der Autor wolle uns Leser mit seiner Bildung beeindrucken: Von Svedenborg über Augustinus , Kant und die französischen Philosophen über die Methoden des Exorzismus bis hin zu erfundenen oder real existierenden Theoretikern der Taubstummheit, Vallgren entfaltet eine Menge Wissen, z.T. auch recht leserunfreundlich auf Lateinisch, was ich wegen des Jahrzehnte zurückliegenden Latinums nicht gerade flüssig lese, aber dieses Wissen dient keiner mir erkennbaren höheren Idee. Zunächst dachte ich, es seien Toleranz, Freiheit und Humanität, um die es hier geht, aber Hercules Blutrausch und - wie schon Doris oben ausführt - dass er sich ohne weitere Folgen und Kämpfe so plötzlich wieder davon abwendet, weil ihm seine Geliebte erscheint, und er danach anscheinend auch keinerlei Gewissensbisse hat, das ist mir motivationstechnisch zu sehr mit der heißen Nadel gestrickt. Einige Handlungsfäden genauso: Wieso heißt seine Tochter mit Nachnamen plötzlich nach ihrer Mutter Vogel, obwohl ihr juristischer Vater, der auch davon ausgeht, ihr biologischer zu sein, ja vorhanden und begütert ist, und wie ist es ihm und ihr überhaupt nach Henriette Vogels Tod ergangen? Alles, was damit zu tun hat, ist sehr unsauber erzählt.

    Ein zwar farbiger, sehr spannender Roman mit einer tollen Hauptfigur, aber der Autor hat vieles verschenkt, was sich aus dem Stoff hätte machen lassen.

  • Ich stecke fest. Ich stecke mitten im Roman und mag nicht einen weiteren Satz mit einer weiteren Aufzählung mit irgendwelchen überbordenden Details lesen. Dabei möchte ich das Buch so gerne mögen und mich den positiven Stimmen anschließen. Zwischendurch ist es Vallgren auch gelungen, mich komplett in den Bann der Erzählung zu ziehen, allerdings hat er mich jedes Mal wieder verloren durch ... Geschwafel. Meist sehr gelehrtes Geschwafel, aber dennoch für mich überflüssiges.


    Übrigens habe ich das Buch aufgrund der oben stehenden Rezis gekauft. Keine Ahnung, ob es mir vor zehn bis zwölf Jahren besser gefallen hätte und ich selbst schuld bin, weil ich es so lange auf meinem SuB reifen ließ. Ich bilde mir ein, dass opulente Details meine Geduld auch damals schon herausgefordert haben. ;) Jetzt greife ich erstmal zu einem anderen Buch und versuchen es später wieder.

    "Natürlich kann man sein ohne zu lesen, ohne Bücher, aber ich nicht, ich nicht." J. L. Borges

  • Breña : oh je, Geschwafel ... dagegen werde ich mit zunehmendem Alter immer allergischer. Da muss jemand schon sehr interessant schwafeln können, dass ich das verzeihe ...

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Valentine Vermutlich werde ich auch zunehmend strenger und hätte es vor zehn Jahren einfach weggelesen. Oder ich hätte es nicht als Geschwafel empfunden. :gruebel:

    So oder so: Meine Lesezeit ist mir inzwischen zu wertvoll.

    "Natürlich kann man sein ohne zu lesen, ohne Bücher, aber ich nicht, ich nicht." J. L. Borges