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Inhalt: Der 22. Mai ist ein ganz normaler Tag, nicht nur in Wellendingen im Südschwarzwald. Hans Seger muß mal wieder dienstlich nach Malmö, seine Frau Eva wird für ihren Dienst ins Krankenhaus nach Donaueschingen fahren. Am 23. Mai pünktlich um sieben Uhr morgens bricht die Katastrophe auf der ganzen Welt aus: sämtliche Computer versagen ihren Dienst und auf einen Schlag fallen Elektrizität, Wasser, Kommunikationsmittel und sonstige Steuerungssysteme aus, Flugzeuge stürzen vom Himmel. Es dauert nur wenige Stunden und in den Städten herrscht Anarchie: Geschäfte werden geplündert und Banken ausgeraubt, in Donaueschingen überlebt von einer Polizeistreife nur ein Mitglied den Mob in der Bank, aber auch das Polizeirevier ist nicht sicher, weil sich dort Waffen holen lassen. Binnen kürzester Zeit brechen Recht und Ordnung zusammen und das Gesetz des Stärkeren tritt an deren Stelle. Während sich auch im Donaueschinger Krankenhaus Dramen abspielen, geht es in Wellendingen etwas gesitteter zu, aber natürlich macht man sich auch dort Gedanken. Hier übernimmt Frieder Faust ganz ungewollt die Führung, als er das Dorf zusammenbringen kann, um die Toten aus dem abgestürzten Flugzeug zu begraben. In den Folgetagen merkt man aber auch im Dorf, daß sich die Zeiten wandeln, denn Überfälle, Lebensmitteldiebstähle und außer Kontrolle geratene Soldaten gehören zur Tagesordnung. Währenddessen befindet sich Hans Seger immer noch Malmö und hofft auf eine kurzfristige Normalisierung, um nach Hause zurückkehren zu können.
Die gröbsten Übergriffe hören in Wellendingen nach einiger Zeit zwar auf, denn wie andere Orte es auch tun sperrt man die Zufahrtsstraßen und läßt nachts Wache gehen, aber die Strukturen im Dorf passen sich den neuen Bedingungen trotzdem nur langsam an. Nur wenige sehen die Notwendigkeit, Vorräte zu teilen, noch viel weniger, Mitleid gegenüber Mitmenschen zu üben, die hilflos sind, Mitarbeit in Ahlbickers Stall gegen eine Kanne Milch muß auch erst gelernt werden und natürlich gibt es auch jemanden, der sich als Bürgermeister aufspielt und politisches Kapital aus der Situation schlagen will als Retter und Leiter des Dorfes in der Krise. Viel bedenklicher ist aber die Anwesenheit von Martin Kiefer, der es nie verwunden hat, daß sich Eva von ihm hat scheiden lassen, um Hans Seger zu heiraten. Während alle versuchen, sich an die geänderten Lebensbedingungen anzupassen, bahnt sich hier ein weiteres Drama an. Und Hans sucht einen Weg nach Hause zu Frau und Tochter ...
Meine Meinung: Gleich vorweg: Michael Tietz ist hier ein packender Endzeit-Thriller gelungen. Er erzählt in meist recht kurzen Kapiteln, dabei ständig die Perspektive zwischen seinen Handlungsorten und den Hauptpersonen wechselnd, was aber keineswegs störend war, sondern vor allem einen guten Gesamtüberblick verschaffte. Zwei entscheidende Aspekte werden im Gefolge dieses völligen Zusammenbruchs betrachtet. Der erste stellt die Frage danach, wie gut wohlstandsverwöhnte Menschen eigentlich mit einer Umwelt zurechtkommen (können), in der sie wieder auf ein fast mittelalterliches Niveau zurückgeworfen sind, was die Versorgungsmöglichkeiten und Hilfsmittel zur Bewältigung von Arbeiten aller Art betrifft. Hier schneiden die Leute im Dorf deutlich besser ab als jene in der Stadt, wobei ich nicht sicher bin, wie weit das wirklich trägt, aber es hatte hier vor allem auch eine dramaturgische Funktion, um die Unterschiede zu verdeutlichen, daher geht das in Ordnung.
Die zweite und, wie ich fand, weitaus spannendere Frage beschäftigt sich mit den sozialen Strukturen. Wie lange halten die antrainierten Verhaltensmuster und Moralvorstellungen, wenn Recht und Ordnung völlig zusammenbrechen und keine Polizei mehr Schutzfunktionen wahrnimmt viel weniger diesen Schutz durchsetzen kann, weil sich die Polizisten erst mal selbst schützen müssen? Kann sich eine Gemeinschaft, die um ihr Überleben ringt und wo die Versorgung mit Lebensmitteln sowieso schon knapp ist, es sich leisten, Leute durchzuschleppen, die nur beschränkt oder gar nicht zum Gemeinschaftswohl beitragen können? Dafür gibt es in Wellendingen zwei Beispiele: einen Überlebenden des Flugzeugabsturzes, der tagelang völlig weggetreten ist, und den psychisch kranken Thomas, den Eva quasi aus Donaueschingen mitgebracht hat, Wie weit kann, und hier paßt dieser altmodische Begriff aufs Beste, Barmherzigkeit unter solchen Bedingungen geübt werden? Und was ist mit jenen, die könnten, aber nicht wollen, wie der Arbeitslose Uwe, der sich seit vielen Jahren auf die Stütze verlassen hat, oder der Anwalt Roland Basler, der seine eigenen Vorräte versteckt, um sie nicht teilen zu müssen, dummschwätzerisch durchs Dorf läuft und sich als wichtig aufspielt? Sind sie nicht sogar für die Gemeinschaft schlimmer als die Hilflosen? Und wie geht man eigentlich mit offensichtlichen Verbrechen um, wenn es keine geregelte Justiz und Gesetzbücher mehr gibt? Die Antworten, die Wellendingen und andere Orte auf solche Fragen finden (manche erlebt man auf Hans' Heimweg), sind durchaus bedenkenswert.
Ich habe mich, gerade bei den wüsten und brutalen Anfangsszenen gefragt, ob die öffentliche Ordnung wohl wirklich binnen zwei Stunden so vollständig zusammenbrechen würde, oder ob Tietz hier nicht zu schwarz malt. Nun ist es schwierig, sich vorzustellen, daß wirklich alles an Systemen versagt, mehr als kurzzeitige, örtlich beschränkte Stromausfälle ist man ja eigentlich nicht gewöhnt. Vielleicht würde es nach zwei Stunden noch nicht so extrem wie hier dargestellt vonstatten gehen, ob die Ordnung allerdings sehr viel länger als von morgens bis mittags halten würde, wage ich nach reiflicher Überlegung doch zu bezweifeln. Bleibt natürlich die Frage, wie wahrscheinlich ein solches Szenario ist. Nun, wie Tietz selbst in seinem Nachwort ausführt, so ist es in dieser Gesamtheit doch eher unwahrscheinlich, aber wenn man die Diskussionen und Aufregungen um den Computerwurm Stuxnet verfolgt hat, der gezielt Steuerungssysteme von Siemens angriff, dann wird manches, was wir uns an Abhängigkeiten leisten, schon bedenklich, und das in diesem Roman gemalte Szenario ein Stück weit wahrscheinlicher.
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Schönen Gruß
Aldawen