Margaret Atwood - Der Report der Magd

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  • Zum Inhalt muss ja nun nichts mehr gesagt werden. Ich fand das Buch anfangs sehr beklemmend und erschreckend, diese Uniformen für jede "Schicht" und das was sie durften oder eben auch nicht. Genauso, dass sich Desfred oft nicht mehr erinnern konnte an Vergangenes oder nicht mehr wusste wann was passiert ist - sowas möchte man sich gar nicht vorstellen.


    Die Rituale die die Mägde erdulden mussten, damit sie "gewarnt" wurden vom System und sich wohl überlegen auch systemkonform zu leben. Den Schreibstil fand ich dem Thema sehr angemessen und das Eintauchen in die Vergangenheit und oft auch die Wunschvorstellungen die Desfred von manchen Erlebnisse hatte nachvollziehbar. Wer will schon immer die Realität sehen und dann auch noch diese.


    Es stimmt - Religion kann oft ausgelegt werden wie es jeder für sich sieht und für richtig hält - in vielen Fällen ist dies sehr unangebracht und kann zu schrecklichen Taten führen.


    Das offene Ende lässt Raum für viele eigene Gedanken und die Erklärungen am Schluss des Buches - wirklich irgendwie komisch. Es ist auf alle Fälle ein Buch das sehr zum Nachdenken anregt und mich auch noch - wie die meisten anderen, länger immer wieder beschäftigen wird.


    ich vergebe 4ratten :marypipeshalbeprivatmaus:

    Liebe Grüße JaneEyre

    Bücher haben Ehrgefühl. Wenn man sie verleiht, kommen sie nicht zurück.

    Theodor Fontane

  • Auch von mir keine weiteren Ausführungen zum Inhalt.


    Es ist ein Experiment, vielleicht gar ein Wagnis, alles aus der Sicht von Desfred erzählen zu lassen. Der Vorteil für die Autorin wird dabei zum Nachteil für die Leser. Desfred versteht aufgrund ihrer engen Wahrnehmungsmöglichkeiten im Grunde so gut wie nichts, mutmaßt überwiegend, durchsetzt mit ein paar Informationen. Diese Informationen, die Berichte über die Kolonien etc., können stimmen oder nicht. Wir erfahren kaum etwas und sind damit in einer den Wissenschaftlern des Schlusskapitels vergleichbaren Position. Nicht ohne Grund trägt das Buch einen Titel, der die Inhalte als eine Erzählung ausweist, oder, wie im deutschen Titel, als Report. Als Erzählung, in der die Fiktion so gut wie nicht vom Bericht zu trennen ist, bezeichnet es ja auch der Wissenschaftler.


    Als Experiment mag es ganz interessant sein. Als „Downer“ entfaltet das Buch wohl auch seine Wirkung. Aber mir persönlich gefällt es nicht besonders, wenn ich als Leser über diese Welt nur wenig erfahre und dann nicht einmal sicher sein kann, ob es stimmt, oder nur die vage Ausdeutung von Informationen durch einen Menschen, der die Verhältnisse nicht durchblickt, ist. Wir erfahren nicht, wie Gilead entstanden ist, wir erfahren so gut wie nichts über Gilead, wir erfahren nicht, warum Gilead am Ende nicht mehr existiert. Dass dies mit der Perspektive zusammenhängt, ist klar. Aber unbefriedigend finde ich es dennoch. Da ändert auch das Schlusskapitel nichts dran, in dem ein Wissenschaftler Mutmaßungen anstellt, die er durch ein paar Fakten begründen zu können glaubt. Letztlich, das zumindest ist ganz interessant, kann die Wissenschaft auch nicht viel mehr zum Verständnis beitragen als die Magd.


    In der Einschätzung des Buches bin ich noch unentschlossen. Aber es gefällt mir eher nicht. Inhaltlich ist es sehr trivial und kratzt eigentlich nur an der Oberfläche einer interessanten Möglichkeit.

  • Zum Inhalt muss ich wohl auch nicht weiter was sagen.


    In klaren und einfachen Sätzen erzählt die Magd Desfred von ihrem Leben. Durch diese Perspektive erfährt man zwar nicht viel über den Staat Gilead, aber dafür liest man einen authentischen Bericht von einer Person, die mitten im Geschehen steckt. Mich hat das Buch sehr bewegt und auch ganz schön mitgenommen. Das eingeschränkte Leben, das Desfred führt ist sehr trostlos und ihr wird auch noch jede Möglichkeit genommen, dieses Leben zu beenden. Der Geschlechtsakt, der die Routine durchbricht ist allerdings auch alles andere als eine erfreuliche Abwechslung.


    Desfred erzählt nicht geradlienig, immer wieder gibt es Rückblenden in die Vergangenheit, eine Zeit vor Gilead, eine Zeit, die unserer sehr ähnlich ist. Gerade das ist das beängstigende. Man sieht wie schnell der Wechsel von unserer jetzigen Gesellschaft in eine wie Gilead vollzogen werden könnte und wie wenig Möglichkeiten man dann noch zum Widerspruch, zur Flucht, zum Entkommen hat.


    "Der Report der Magd" ist ein Buch, das mich noch lange beschäftigen wird. Obwohl ich mich an manchen Stellen zum Weiterlesen zwingen musste, weil ich manche Dinge lieber nicht gewusst hätte, konnte ich das Buch doch nicht mehr aus der Hand legen, ich habe mit Desfred gefühlt und gelitten und war erfreut über das offene Ende, das noch einen Funken Hoffnung zurücklässt.


    5ratten

    ~~better to be hated for who you are, than loved for who you&WCF_AMPERSAND're not~~<br /><br />www.literaturschaf.de

  • Mir geht es gleich wie mohan, der mein Unbehagen sehr schön in Worte gefasst hat:



    Das kann ich nur unterschreiben. Weil ich bei der Bewertung ebenso unentschlossen war, habe ich neutrale 5 von 10 Punkten dafür vergeben. Hier ist meine Kritik im Detail:


    Inhalt:
    Irgendwas muss schief gelaufen sein in der Welt: Offred (Name von Desfred im englischen Original) dient als Magd im Haushalt eines Commanders. Sie hat praktisch keine Rechte und wird eigentlich gar nicht als Mensch wahrgenommen, sondern als Gebärmaschine. Ihre Aufgabe als Magd ist es nämlich, Kinder vom Commander zu empfangen. Offenbar gibt es durch Umweltverschmutzung und andere Faktoren ein Problem mit der Zeugung von Nachwuchs, weshalb Frauen, die bereits ein gesundes Kind geboren haben, als Mägde dienen können. Wie eben Offred, die sich allerdings noch gut an die Zeit vor der Katastrophe erinnern kann, als Frauen gleichberechtigt waren, ihr eigenes Geld verdienten und eigene Entscheidungen trafen.
    Aber eben, etwas muss schief gelaufen sein und jetzt führt sie ein eintöniges Leben, das sie so nie wollte, das aber immer noch besser als die Alternativen scheint, über die man allerdings nichts Genaues weiss. So ist eine Möglichkeit, in Ungnade zu fallen und in die Kolonien abgeschoben zu werden, wo ein elendes, kurzes Leben auf einer giftigen Müllhalde droht.


    Meine Meinung:
    «Der Report der Magd» ist ein furchtbar depremierendes Buch, Margaret Atwood hat sich grösste Mühe gegeben, die mickrigen Hoffnungsschimmer, die sich darin finden, sparsam einzusetzen. Die ganze Geschichte wird aus Sicht von Offred erzählt. Sie mutierte im Zuge der «Umerziehung» zur Magd von einer gebildeten jungen Frau zu einem hoffnungslosen und eher trägen Menschen, der das vermeintliche Schicksal zu ertragen versucht und sich an den wenigen abwechslungsreichen Dingen freut, die manchmal passieren.


    Und so habe ich mich an der Seite von Offred durch dieses Buch geschleppt, das mich vor allem dadurch beeindruckt hat, wie es Atwood schaffte, die Hoffnungslosigkeit und die Eintönigkeit zu transportieren ohne zu langweilen. Vielleicht ist es ihr sogar ein wenig zu gut gelungen. Ich hatte recht lange an dem Buch, weil ich einfach nicht mehr aufschlagen und in diese Welt zurück reisen wollte. Daran hatte allerdings nicht nur die erzählerische Leistung der Autorin Anteil, sondern auch ein paar Dinge, die ich als Defizit empfand. So erfährt man kaum, wie es überhaupt zu dieser von Dogmen geprägten und unfairen Gesellschaft kam. Es gibt keine Aufschlüsse darüber, wie umfassend das «Staatsgebiet» dieser Wahnsinnigen ist und wer sie regiert. Überhaupt wird vieles nur angedeutet oder so erzählt, als wären die Zusammenhänge jedem klar. Das ist zwar einerseits realistisch. Wenn ich über mein Leben erzählen würde, finge ich auch nicht mit der Entstehung der Eidgenossenschaft an. Andrerseits dient es mir als Leserin überhaupt nicht und böse Zungen könnten behaupten, dass sich Atwood damit elegant um eine plausible Erklärung für die Entstehung dieser skurrilen Gemeinschaft gedrückt hat.


    Allerdings hat mich das Buch sehr zum Nachdenken gebracht. Offred ist mit ihrem neuen Leben äusserst unglücklich und das zu Recht. Nur: Wieso tut sie nichts dagegen? Und damit meine ich jetzt nicht mal Selbstmord (obwohl die Rate der Selbsttötungen unter den Mägden erschreckend hoch ist). Es gibt ein Leben ausserhalb dieser verkorksten Gesellschaft, da müsste man doch abhauen oder sonstwie rebellieren, dass sie einen entweder rauswerfen oder dann halt töten. Aber den ganzen Mist einfach hinnehmen und Monat für Monat, Jahr für Jahr auf eine Änderung hoffen? Oder auf eine Schwangerschaft, die doch nie eintritt? (Mägde, die ein gesundes Kind zur Welt bringen, führen danach offenbar ein recht angenehmes Leben. Wobei auch das nicht sicher ist.) Einfach ausharren und auf Besserung hoffen scheint Offreds Rezept zu sein. Diese Passivität fand ich genauso depremierend wie die ganze Situation, in der die Frau steckt.


    Da war mir Offreds Freundin Moira viel lieber. Diese Frau riskiert ihre Gesundheit und ihr Leben, um dem vorgezeichneten Pfad zu entkommen. Sie wehrt sich, sie leidet dafür und wehrt sich dann wieder. Das war schon eher nach meinem Geschmack. Und eigentlich auch nach dem Offred, die Moira sehr bewundert, aber selber nicht den Mut findet, es ihr gleich zu tun. Moira hingegen hat keine Angst, für ihre Freiheit zu sterben und wenns geht noch gleich ein paar Schergen des Unrechtsregimes mitzunehmen. Das kann zwar auch fürchterlich schief gehen, ist aber weniger depremierend als Offreds Hoffnungslosigkeit.


    Fazit:
    Zwar ein gutes Buch, aber zu düster für meinen Geschmack. Ich musste mich stellenweise fast zwingen, weiter zu lesen. Diese Deprostimmung brauche ich beim Lesen nicht, dafür kann ich jederzeit Nachrichten aus der realen Welt schauen.

    Wer anderen folgt, wird nie zuerst ankommen.

  • Ich habe jetzt etwa das erste Drittel hinter mir und bin einigermaßen irritiert. Das gilt zunächst einmal und vor allem für den Zeithorizont. Wenn ich die bislang aufgepickten Infos über Offreds Leben zusammennehme, dann müßte der Umschwung binnen weniger Jahre (ich sage mal: drei bis maximal fünf) stattgefunden haben und kann auch noch nicht so lange zurückliegen, weil das sonst mit ihrem vorigen Leben und dem Alter der Tochter alles nicht hinkommt. Und in dieser Zeit hat sie auch noch ihre „Ausbildung“ erhalten und mindestens die zweite „Stellung“, wobei sie dort mindestens zwei, eher mehr Vorgängerinnen hatte. Das paßt für mein Empfinden alles nicht recht zusammen.


    Und ausgehend von der Gesellschaft, an die Offred sich noch erinnert, halte ich das alles auch für extrem überstürzt, jedenfalls nicht für schleichend oder sukzessive, wie es Offred selbst einmal bezeichnet hat. Ehrlich gesagt: Ich kann mir vielleicht ausgehend von einer konservativen religiös-fanatischen Gesellschaft einen so kurzfristigen Wechsel vorstellen, aber nicht von einer durchschnittlichen „westlichen“ wie sie hier als Vorgänger postuliert wird. In einem relativ eng umgrenzten Gebiet, das von einer solchen Sekte kontrolliert wird, ist eine solche Gesellschaft sicher durchaus möglich, dafür gibt es auch Beispiele, aber insgesamt ist mir die rein geographische Ausdehnung Gileads dafür zu groß. Hier scheint ungefähr der Bible Belt für die Ausdehnung Pate gestanden zu haben, denn die ganzen heutigen USA sind ja offensichtlich nicht betroffen, da man mit Kalifornien und Florida (wenn ich das gerade richtig in Erinnerung habe) Krieg führt. Trotzdem ist das dann noch eine andere Ausgangsbasis als sie bspw. die Taliban in Afghanistan vorgefunden hatten.


    Auch ist mir noch nicht klar, aber das kommt vielleicht noch, warum die Ehefrauen noch so eine herausgehobene Stellung innehaben können. Letztlich sind sie doch in der Gesellschaft zu nichts nutze, und angesichts der allgemeinen Frauenrolle ist ihre relative Vorzugsstellung nicht nachvollziehbar. Beruhigend ist bislang höchstens, daß eine Gesellschaft, die so tickt, ein demographisches Problem hat und sich zwangsläufig von selbst erledigt ...

  • Dem Unbehagen von mohan und Alfa_Romea schließe ich mich an. Für mich funktioniert die ganze Grundkonstellation des Romans schon nicht, das betrifft einerseits die Grundlagen der Gesellschaft und die Organisation dieses Staates, von dem man keine halbwegs gesicherten Informationen erhält. Und andererseits, das hatte ich ja in einem vorigen Posting schon angemerkt, betrifft es die mißratene Zeitlinie, diesbezüglich brachten die übrigen zwei Dritteln auch keine Verbesserung, eher im Gegenteil. Wenn ich aber die grundsätzlilchen Annahmen einer Welt in ihren Zusammenhängen schon nicht akzeptieren oder wenigstens nachvollziehen kann, dann löst sich der dystopische Effekt, der hier eigentlich eintreten soll, in heiße Luft auf. Tatsächlich ging es mir etwas wie Alfa, ich habe mich an Offreds Seite durch dieses Buch geschleppt, ohne mich davon besonders emotional angsprochen zu fühlen. Offreds Freundin Moira hat mich da deutlich mehr interessiert, weil diese wenigstens noch den Willen zeigte, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Der Erfolg ist sicher zweifelhaft, aber nur auf Basis von derart resignierten Menschen wie Offred haben solche Gesellschaftssysteme überhaupt eine Chance. Das erinnerte mich ein bißchen an das berühmte Zitat von Martin Niemöller:


    Zitat

    Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist. Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Sozialdemokrat. Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Gewerkschafter. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.


    Zugegeben, da ich selbst noch nicht einer solchen Situation ausgesetzt war, weiß ich nicht, wie ich mich konkret verhalten würde. Aber ich kann und will mir nicht vorstellen, daß ich mich derart herabwürdigen ließe und es einfach schicksalsergeben hinnähme. Und ich gestehe Atwood zu, daß sie einen Punkt macht, wenn es ihr darum ging, daß Zivilisation eine dünne Schicht ist, um deren Erhalt man sich ständig bemühen muß. Aber wenn es um das Potential geht, das in dieser Geschichte gesteckt hat, dann gebe ich mohan recht: Hier wurde zu sehr nur an der Oberfläche dessen gekratzt, was man hätte daraus machen können. Zumindest aber hat Atwood das ganze sprachlich so verpackt, daß es mich über die Schwächen, die die Story für mich hatte, noch gerade so hinweggetragen hat.


    2ratten


    Schönen Gruß
    Aldawen

  • Margaret Atwood – Der Report der Magd
    Übersetzerin: Helga Pfetsch


    Inhaltsangabe:


    Das Buch erzählt die Geschichte Desfreds:
    In ihrem alten Leben war Desfred Bibliotheksangestellte in den USA. Zum Zeitpunkt der Erzählung gibt es die USA bereits nicht mehr, sie wurden zum totalitären Staat Gilead – einem Staat, der seinen Bewohnern sehr enge Grenzen setzt. Frauen dürfen keinen Beruf mehr ausüben, kein Bankkonto mehr besitzen und sollen Kinder in die Welt setzen. Wenn sie – egal aus welchem Grund – nicht (mehr) schwanger werden, dann werden sie in „die Kolonien“ zu Schwerstarbeit abgeschoben. Die Bewohner Gileads bespitzeln sich gegenseitig, man denunziert, man versucht, sich illegale Erleichterungen zu beschaffen. Desfred hatte bereits eine Tochter, als die Machtübernahme durch die „Söhne Jakobs“ stattfand und damit besteht die Hoffnung, dass sie noch weitere Male schwanger werden könnte. Zu diesem Zweck wird sie als „Magd“ eingeteilt und einem hohen Beamten Gileads zugeteilt, der mit ihr ein Kind zeugen soll. Als Magd ist man in Gilead nicht hoch angesehen: bei den Ehefrauen gelten sie als Huren und notwendiges Übel, für die Hausangestellten bedeuten sie Mehrarbeit und man muss auf sie aufpassen, denn die Selbstmordrate unter den Mägden ist sehr hoch. Während Desfred im Haus des Kommandanten lebt und Zeit totschlägt (lesen und schreiben ist ebenfalls nicht erlaubt), erinnert sie sich an frühere Tage, an ihre Tochter, ihren Mann Luke, an ihre beste Freundin Moira und an ihre „Umerziehung“ zur Magd. Doch die Zeit geht vorüber, Desfred wird nicht schwanger, und sowohl der Kommandant als auch seine Ehefrau haben unterschiedliche Vorschläge, wie man dem abhelfen könnte ...


    Der erste Satz:


    „Wir schliefen in dem Raum, der einst die Turnhalle gewesen war.“


    Meine Meinung zum Buch:


    Ich habe gerade schon beim Schreiben der Inhaltsangabe festgestellt, dass es sehr schwierig ist, die überaus komplexe Welt Gileads zu beschreiben. Margaret Atwood entwirft das Bild einer Gesellschaft, in der man nur zwei Möglichkeiten hat: Unterordnung oder Untergrund. Ein anderes Leben als von den Machthabern vorgeschrieben gibt es nicht.


    Das Buch habe ich zum ersten Mal vor langer Zeit gelesen, es muss in der zweiten Hälfte der 80er Jahre gewesen sein. Damals habe ich es geliebt und verschlungen; die ganze spätere Zeit über durfte das Buch sämtliche Umzüge mitmachen und wurde immer wieder ins Regal gestellt. Nun habe ich es für ein wiederholtes Lesen herausgeholt, trotz einer leisen Befürchtung, dass mir die Geschichte heute nicht mehr so gefallen würde wie früher. Aber diese Befürchtung hat sich Gott sei Dank nicht bewahrheitet – mit ein paar kleinen Abstrichen bin ich heute noch/wieder davon begeistert.


    Besonders faszinierend finde ich, was Atwood alles zwischen die Zeilen packt. Die Historie Gileads wird nie offen beschrieben, als Leserin erfahre ich nur in ganz kleinen Bruchstücken, was passiert war. Ich lese von einem Erdbeben und von im Anschluss daran explodierenden Atomkraftwerken, von Umweltzerstörung, von dem Staatsstreich der „Söhne Jakobs“, die den Präsidenten und alle Kongressabgeordneten ermordet haben und von der schleichenden Einrichtung des Staates Gilead. Diese Informationen sind über das ganze Buch verteilt und so kann ich als Leserin Stück für Stück zusammensetzen – allerdings nur zu einem groben Bild, denn Details erfahre ich nicht. Dass viele Fragen zu Gilead offen bleiben, hat mich aber nicht gestört.


    Über Desfred erfahren wir in der Geschichte am meisten, trotzdem blieb sie mir fremd und ich konnte mir ihre Passivität in der Gilead-Zeit nicht erklären. Obwohl ihre Mutter und auch ihre beste Freundin Moira vergleichsweise kleine Rollen spielen, kommen mir diese Figuren doch wesentlich stärker und damit auch präsenter vor. Sie TUN etwas, sie kämpfen und ich habe ihnen immer die Daumen gedrückt. Dass Desfred nicht aktiv Widerstand leistet, kann ich ja verstehen, aber dass sogar ihre Gedanken passiv sind, passte für mich nicht so richtig.


    Atwood lässt Desfred in einer abgehackt wirkenden Sprache erzählen, sie fasst sich kurz, als hätte sie nur wenig Zeit für ihren Bericht, das passte für mich sehr gut zu der Geschichte und wirkte lebendig. Lebendig waren auch die Sprünge zwischen Jetztzeit und Erinnerung – ich hatte das Gefühl, einem Menschen wirklich zuzuhören.


    Eine halbe Ratte ziehe ich für den letzten Teil, die „Historischen Anmerkungen“ ab – aus meiner Sicht sind die völlig unnötig, bringen kaum zusätzliche Informationen und machten den Schluss für mich eher „unrund“.


    Meine Bewertung: 4ratten:marypipeshalbeprivatmaus:


    Abschließend stelle ich für mich fest, dass sich das neue Lesen sehr gelohnt hat – und das Buch darf wieder zurück ins Regal und landet nicht in der Flohmarktkiste.


    Viele Grüße von Annabas :winken:


  • Margaret Atwood hat sich in der Wahl ihrer Perspektiven nicht nur auf eine Frau, sondern zugleich auf eine einfache Frau beschränkt. Keine Heldin. Statt um die Rebellion sorgt sich Desfred um Mann und Kind und um die eigene glatte Haut. Keineswegs bewährt sich - wie sonst oft in der sogenannten Frauenliteratur - die Gewalt des Patriarchats letztendlich als Mittel zur Förderung des protestierenden feministischen Geistes. Die Macht wirkt vielmehr vernichtend, sie reduziert ihr Opfer auf das ursprünglichste Bedürfnis, auf die Sehnsucht nach Leben und Liebe.


    Toll zusammengefasst! Man sieht an Desfred, was aus einem (einigermaßen) selbstständigen Menschen werden kann. Nebenbei: Der Ehefrau des Kommandanten Serena Joy geht es ja nun auch nicht so wesentlich besser. Sie hat für das neue Regime gekämpft, ist im Fernsehen aufgetreten, und als die "Söhne Jakobs" dann die Macht übernommen hatten, wurde sie selbst entmachtet und zum weiblichen Anhängsel degradiert - eine ehemals sehr ehrgeizige Frau, die nun ihre Erfüllung in der Gartenarbeit finden soll.
    Serena Joy ist eine sehr unsympathische aber interessant entwickelte Figur!



    Das offene Ende lässt Raum für viele eigene Gedanken und die Erklärungen am Schluss des Buches - wirklich irgendwie komisch. Es ist auf alle Fälle ein Buch das sehr zum Nachdenken anregt und mich auch noch - wie die meisten anderen, länger immer wieder beschäftigen wird.


    Vielleicht gibt's dann auch eine Wieholek? :zwinker:



    Ich habe jetzt etwa das erste Drittel hinter mir und bin einigermaßen irritiert. Das gilt zunächst einmal und vor allem für den Zeithorizont. Wenn ich die bislang aufgepickten Infos über Offreds Leben zusammennehme, dann müßte der Umschwung binnen weniger Jahre (ich sage mal: drei bis maximal fünf) stattgefunden haben und kann auch noch nicht so lange zurückliegen, weil das sonst mit ihrem vorigen Leben und dem Alter der Tochter alles nicht hinkommt. Und in dieser Zeit hat sie auch noch ihre „Ausbildung“ erhalten und mindestens die zweite „Stellung“, wobei sie dort mindestens zwei, eher mehr Vorgängerinnen hatte. Das paßt für mein Empfinden alles nicht recht zusammen.


    Das stimmt, es muss in kurzer Zeit sehr (bzw. zu) viel passieren, um Desfreds Situation herbeizuführen, das ist tatsächlich nicht ganz logisch. Ob ein derartiger Umbruch in ca. 10 Jahren (den Zeitraum schätze ich aufgrund Desfreds Erzählungen) herbeizuführen ist, ist fraglich. Aber sehr gestört hat mich das nicht.


    Grüße von Annabas :winken:

  • Hallo ihr Lieben!


    Lange hat es gedauert, aber endlich - ENDLICH - habe auch diesen modernen Klassiker gelesen und verstehe, warum das Werk überall so hoch gelobt und empfohlen wird.


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    Erster Satz: We slept in what had once been the gymnasium.


    Inhalt:
    In der nahen Zukunft lebt Offred im Haus des Commanders und seiner Frau. Sie darf einmal täglich das Haus verlassen um den Markt zu besuchen, sie darf nicht lesen, und sie hofft, dass der Commander es schafft, sie zu schwängern - denn ihr ganzer Wert als Mensch hängt davon ab, wie fruchtbar sie ist. Offred erinnert sich an die Jahre vor diesem Leben, als sie eine unabhängige Frau war, eine Arbeit, einen Mann und ein Kind hatte. Doch all das ist vorbei... alles hat sich geändert.



    Meine Meinung:
    Wie rezensiert man ein Buch, das nicht nur als eines der besten Bücher überhaupt verkauft wird, sondern das auch noch länger existiert als man selbst? Ich schätze, man kann es nicht wirklich rezensieren, nur eigene Eindrücke niederschreiben - und weil ich Spoiler vermeide, wird auch das nur ein kurzer Einblick in meine Gefühle beim Lesen dieses faszinierenden Buches.


    Die Geschichte wirft uns in eine Welt in der nicht allzu fernen Zukunft, wo Frauen in Kasten eingeteilt werden und eine spezielle Aufgabe erfüllen. Es gibt die Ehefrauen, die mit wichtigen Männern verheiratet sind, es gibt Marthas, die sich um den Haushalt kümmern, und es gibt Mägde - denn die Menschheit hat große Schwierigkeiten sich fortzuplanzen. Offred, die Ich-Erzählerin dieser Geschichte, ist eine solche Magd. Sie dient einer kinderlosen Familie in der Hoffnung, dass sie dem Paar ein Kind geben kann. Ich erwähne hier keine Details, wie das vor sich geht, aber im Buch lesen wir zumindest ein Mal von der "Zeremonie".


    Die Autorin bleibt anfangs absichtlich vage und verrät uns erst nach und nach, wie es zu dieser bedrückenden Gesellschaft kam, in der Frauen ihre Freiheit, ihre Privatsphäre und praktisch jeglichen Wert verloren haben. Wir lernen nie, wie Offred wirklich heißt - sie ist immer nur das, die Magd "of Fred" (Desfred finde ich übrigens eine schreckliche Übersetzung, obwohl mir spontan auch nichts Besseres einfallen würde :rollen:). Durch Rückblicke in Offreds Zeit vor diesem Halb-Leben, erfahren wir stückchenweise, wie es zu diesem neuen Regime kam. Mich hat hier vor allem fasziniert wie sehr ich mit ihr mitgefühlt habe, mit ihr gehofft habe, dass ihr Mann und ihre Tochter irgendwo noch am Leben sind. Denn wir lernen ihre kleine Familie nur in kurzen Rückblick-Szenen kennen.


    Der Schreibstil fließt nur so dahin und immer wieder traf ich auf Sätze, die mich unheimlich getroffen haben. Das mussten gar keine Sätze über wichtige Dinge oder dramatische Geschehnisse sein. Es waren einfach Wörter, zusammengewürfelt auf eine Art und Weise, die sie poetisch und bedeutsam zugleich erscheinen ließen. Solche Sätze kommen immer wieder vor, unangekündigt und überraschend, aber sie haben die Welt von Gilead und Offreds Charakter umso mehr zum Leben erweckt.


    Selbst wenn ich die Handlung oder Charaktere langweilig gefunden hätte, wäre die Sprache genug gewesen um mich zum weiterlesen zu bewegen. Nun muss ich sagen, dass mir sowohl Handlung als auch Charaktere ausgesprochen gefallen haben. Sofern man bei einer Dystopie von "gefallen" reden kann. Offred mag sehr passiv wirken, aber die Atmosphäre der Angst, der Unterdrückung, haben mich überzeugt, dass ich an ihrer Stelle vermutlich ähnlich gehandelt hätte. Dass es ein Untergrundnetzwerk von Rebellen gibt ist ermutigend, aber die Angst ist so bedrückend, dass man wie gelähmt ist von ihr. Offred erringt lieber kleine Siege des Alltags als wirklich zu versuchen aus ihrer persönlichen Hölle auszubrechen. Und ich konnte sie voll und ganz verstehen.


    Kurz gesagt: Ich bin absolut beeindruckt. Dieses Buch, 1985 erschienen, ist heute mindestens so relevant wie vor 20 Jahren. Abgesehen davon, dass es eine mitreißende Geschichte erzählt, von einer Frau, die versucht am Leben zu bleiben und nicht verrückt zu werden, behandelt es Themen wie die Unterschiede der Geschlechter, Sexualität, Freiheit und Privatsphäre. Es wird nie mit dem Zaunpfahl gewunken, die Autorin gibt uns gerade genug Informationen um selbstständiges Denken anzuregen. Und genau das sollte eine gute Dystopie tun.


    Auch das (nicht ganz) offene Ende hat mir gefallen. Die Autorin gibt uns keine klare Antwort auf die Fragen, die uns bedrücken, sondern sie gibt uns etwas Besseres: Hoffnung.


    4ratten :marypipeshalbeprivatmaus:


    Liebe Grüße,
    Wendy

    Jahresziel: 2/52<br />SLW 2018: 1/10<br />Mein Blog

  • Es ist ein Experiment, vielleicht gar ein Wagnis, alles aus der Sicht von Desfred erzählen zu lassen. Der Vorteil für die Autorin wird dabei zum Nachteil für die Leser. Desfred versteht aufgrund ihrer engen Wahrnehmungsmöglichkeiten im Grunde so gut wie nichts, mutmaßt überwiegend, durchsetzt mit ein paar Informationen. Diese Informationen, die Berichte über die Kolonien etc., können stimmen oder nicht. Wir erfahren kaum etwas und sind damit in einer den Wissenschaftlern des Schlusskapitels vergleichbaren Position


    Nun ja, wir erfahren gerade so viel, wie wir in der Situation von "Offred" erfahren würden-
    Ich fand es schon realistisch, dass jemand, der eine Grundbildung genossen hat (Collegeabschluss, oder?), nach einiger Zeit ohne Informaitonsmedien, ohne Lesen etc., ohne überhaupt gesicherte und regelmäßige Informationen und dann noch beeinfluss von der anfangs intensiven Gehirnwäsche und der täglichen Abschottung von anderen Menschen und Informationen im Alltag - eben viel vergisst.


    Immerhin wurden auch alle "Landmarken" zum Erinnern vernichtet - Daten wurden verändert, es existieren keine Erinnerungsstücke, sogar die eigene Identität wurde geändert und man darf sich nicht anmerken lassen, an früher zu denken oder überhaupt zu denken.


    Das Scrabblespiel zeigt ja deutlich, dass sogar der Kommander, der ja das System mit erfunden hat, die Vergangenheit, die noch gar nicht so lange her ist, (fast schon) vergessen hat und erst mal irritiert ist, dass Offred liest/ lesen kann.
    Sein Alltag hat sein (Vor-)Wissen eingeholt, sein Wissen von früher wurden von der veränderten Realität überschrieben.


    Übrigens: Ältere Menschen, die nicht mehr arbeiten, vergessen oft, welcher Wochentag gerade ist, weil ihnen die Erinnerungsmarke dazu fehlt (Montag macht man auf der Arbeit dies, Mittwoch geht man abends zum Sport etc.).
    Das kommt sehr oft vor und muss nichts mit Demenz etc. zu tun haben.
    Was man nicht mehr mit einer "Erinnerungsmarke" verbindet, vergisst man schnell.
    Wie hießen die Klassenkameraden und Lehrer von früher?


    Wie die erste Kollegin, mit der man zsammengearbeitet hat?
    Wie hieß der Hund des ersten Freundes?
    Wie hieß das erste so geliebte Stofftier/ die Puppe, die man als Kind hatte?
    Das wird oft vergessen, weil man lange nicht mehr daran gedacht hat und am ehesten erinnert, wenn man in eine ähnliche Situation kommt (eine neue Kollegin anlernt, selbst Kinder bekommt etc.).


    Wenn nun jegliche Erinnerungsmarke wegfällt und noch zusätzlich von außen alles für das Vergessen getan wird und dazu noch der Alltag und Gesprächsinhalte sowie Abläufe sich radikal vom früher unterscheiden, vergisst man glaube ich sehr schnell, wenn man nicht bewusst täglich dagegen an arbeitet.
    Ich meine: Was habt Ihr letztes Jahr zu Weihnachten bekommen? Und im Jahr davor? Und im Jahr davor? :zwinker:


    Ich muss allerdings zugeben, erst als ich die Lesehilfe (Vintage Living Texts) gelesen habe, fiel mir etwas zu der Konferenz am Ende ein.
    Dort wird nämlich darauf hingewiesen, dass sich die Stellung der Frau inzwischen wieder verschlechtert hat, was man am Gelächter nach den zweideutigen Witzen der Redner ("underground fragil road") merken könne. Und auch an den Interessensschwerpunkten der Konferenzteilnehmer, die eher auf bspw. Computerausdrucke des Kommanders und seine identität fokussiert sind.


    Am Ende thematisiert das Buch ja auch irgendwie, wie wir die Welt wahrnehmen, was wir wie davon wissen oder zu wissen glauben und wie sehr wir auf seriöse Informationen angewiesen sind.
    Als das Buch geschrieben wurde, gab es noch kein Internet für alle, trotzdem finde ich den Punkt sehr interessant:
    Im Buch kann Offred nur mit den Informationen operieren, die ihr irgendwie unterkommen, durch eigene Gedanken, zufällig aufgeschnappte GEsprächsfetzen und heimliche Gespräche, bei denen sie nie sicher sein kann, was der Gesprächspartner genau meint (regimetreu oder nicht, codiert oder nicht, wenn ja, wie).
    Wir haben heute sehr viele Informationesquellen, aber trotzdem oder gerade deshalb auch sehr viele Fehlinformationen, auf die wir uns manchmal verlassen.
    Unser Bild der Welt wird zwar aus vielen Quellen gespeist, aber wir können doch auch nicht huntertrozentig sicher sein, dass das, was uns da als Wahrheit verkauft wird, glaubwürdig ist und den Tatsachen entspricht (Hintergründe zum Irakkrieg etc.).



    Offred ist mMn nicht dumm und wird auch nicht so dargestellt, aber sie hat nur unzuverlässige Informationen, die sie oft durch eigene Gedanken ergänzen muss, damit sie Sinn ergeben oder selbst nicht ganz versteht.
    Ginge es uns in dieser Situation anders?
    Und geht es uns nicht heute manchmal auch selbst so?
    Was von dem, das wir "wissen", wissen wir denn von Grund auf, was übernehmen wir einfach so, entweder, weil wir es nicht ganz verstehen oder die Quelle nicht geprüft haben?
    Vielleicht ist das auch ein Thema des Buches?


    Liebe Grüße von
    Keshia


    PS
    Was wir nicht wissen können, genauso wenig wie Offred: Die Kolonien - gibt es sie wirklich? Und wie realistisch sind die Berichte darüber? Oder sind diese nur Schreckgespinste, um das Volk gefügig zu halten?

    Ich sammele Kochbücher, Foodfotos und Zitate.


    <3 Aktuelle Lieblingsbücher: "The good people" von Hannah Kent, "Plate to pixel" von Hélène Dujardin und "The elegance of the hedgehog" von Muriel Barbery.

  • Ich habe das Buch gerade erst beendet, vermute aber, dass es noch lange bei mir Nachwirken wird.


    Im Grunde kann ich mich den meisten positiven Rezensionen hier anschließen. Ich hatte anfangs ein wenig Schwierigkeiten in die Geschichte hineinzukommen, da man von Offred so ins kalte Wasser geschmissen wird, und hatte mehrmals den Drang, weitere Informationen zu googlen, was ich zum Glück dann doch nicht getan habe.
    Der Stil hat mir mit der Zeit sehr gut gefallen und ist für mich sehr authentisch. Auch, dass man eigentlich bis zum Ende hin nicht weiß, welche Geschehnisse genauso passiert sind, und welche sie in ihrer Erinnerung verändert hat.


    Auch dass man von der Entstehung Gileads nicht wirklich zu viel erfährt und alles sehr verschwommen und mysteriös wirkt, fand ich authentisch. Immerhin wird den Handmaids jegliche Information vorenthalten, Lesen und Schreiben ist verboten, und dass Offred überhaupt hin und wieder die Nachrichten sieht, ist lediglich der "Güte" von Serena Joy zu verdanken. Ich kann mir auch gut vorstellen, dass das menschliche Gedächtnis durch so eine extreme Traumatisierung nicht mehr so funktioniert wie zuvor, und dass Offred vieles vielleicht verdrängt hat oder verfälschte Erinnerungen hat. Über manches mag sie auch einfach nicht reden.
    Die Gedankensprünge finde ich deswegen auch realistisch, wenn man etwas erzählt, kann es ja leicht passieren, dass man von einem Thema zum nächsten und übernächsten kommt. Mir jedenfalls :breitgrins:


    Auch dass Offred nicht aktiv an irgendeiner Rebellion teilnimmt oder das System stürzen will, finde ich extrem ehrlich. Wäre es so einfach und würde das jeder von uns sofort machen, wieso gibt es dann im Laufe der Geschichte und auch heute noch so viele Diktaturen, faschistische und menschenunwürdige Systeme und Regime?
    Ich traue mich jedenfalls nicht zu behaupten, ich würde mein eigenes Leben für den Kampf der Freiheit opfern. Die Welt in der Offred lebt, ist so weit von der meinigen entfernt, dass ich nicht mal in Ansätzen eine Vorstellung davon habe, wie ich reagieren würde.
    Ich lese in Dystopien zwar auch immer wieder gerne von den Helden, aber das sind für mich klare Werke von Fantasy und Science Fiction. Hier macht Atwood für mich aber den Unterschied, indem sie eine Hauptfigur wählt, die sich eben nicht traut.


    Lediglich mit dem Epilog habe ich Schwierigkeiten, da ich hier nicht so ganz rauslesen kann, was mir zwischen den Zeilen über die Zeit, in der der Epilog spielt, gesagt wird und was die Motivationen des Professors sind.
    Auch der zeitliche Faktor ist mir noch nicht ganz klar. Wie viel Zeit ist vergangen zwischen der Welt, wie wir sie kennen, und dem Entstehen des Gilead-Regimes? Gefühlsmäßig würde ich sagen, dass sich das ganze nicht wirklich ausgehen kann.


    4ratten :marypipeshalbeprivatmaus:

    “Grown-ups don't look like grown-ups on the inside either. Outside, they're big and thoughtless and they always know what they're doing. Inside, they look just like they always have. Like they did when they were your age. Truth is, there aren't any grown-ups. Not one, in the whole wide world.” N.G.


  • I


    Lediglich mit dem Epilog habe ich Schwierigkeiten, da ich hier nicht so ganz rauslesen kann, was mir zwischen den Zeilen über die Zeit, in der der Epilog spielt, gesagt wird und was die Motivationen des Professors sind.
    Auch der zeitliche Faktor ist mir noch nicht ganz klar. Wie viel Zeit ist vergangen zwischen der Welt, wie wir sie kennen, und dem Entstehen des Gilead-Regimes? Gefühlsmäßig würde ich sagen, dass sich das ganze nicht wirklich ausgehen kann.


    4ratten :marypipeshalbeprivatmaus:


    Ich hatte es so verstanden, dass zwischen Offreds früherem Leben und der Handlung des Romans maximal wenige Jahre vergangen sind, vermutlich weniger als 10.
    Sonst könnte sie sich nicht so lebhaft erinnern und würde vielleicht auch die Welt um sie herum - welche Aufgabe jeder hat, was man darf und was nicht - nicht so detailliert beschreiben, weil das für sie schon Alltag wäre.


    Offenbar haben viele mit der Konferenz am Ende so ihre Probleme...


    Ich finde an diesem Buch auch sehr interessant, dass man beim ersten uninformierten Lesen ganz andere Theorien bildet als in der zweiten Hälfte des Buches.
    Z.B. den ersten Absatz - "we slept in what had once been the gymnasium" - habe ich lange so verstanden, dass die Leute da nach irgendeiner Katastrophe untergebracht wurden. Die Sache mit den "cattle prods" habe ich gelesen, nicht verstanden und bin einfach darüber hinweg gegangen, erst ab der zweiten Hälfte des Buches ergab das einen Sinn und ich bin noch mal zum Anfang zurück gekehrt.


    Völlig unrealistisch finde ich allerdings die Aussage am Ende des Buches über die Natur des Manuskripts,



    LG von
    Keshia

    Ich sammele Kochbücher, Foodfotos und Zitate.


    <3 Aktuelle Lieblingsbücher: "The good people" von Hannah Kent, "Plate to pixel" von Hélène Dujardin und "The elegance of the hedgehog" von Muriel Barbery.

  • Keshia: ja, ich denke auch, dass nicht zu viel Zeit vergangen sein kann. Offred ist ja auch noch nicht so viel älter und noch im gebärfähigen Alter und ihre Tochter stammt ja aus der prätotalitären Zeit beziehungsweise der Übergangszeit.
    Sie beschreibt allerdings auch ein wenig, wie es überhaupt zu diesem System kam und irgendwo erzählt sie, dass es viele schleichende Veränderungen gab, die zu einem immer extremeren Regime führten. Allerdings kann es auch wieder nicht "zu schleichend" gewesen sein, wenn wir eben davon ausgehen, dass noch nicht allzu viel Zeit vergangen ist.
    Und zwischen ihrer Flucht und ihrer Gefangennahme und anschließender Ausbildung zur Handmaid bis zum Beginn des Buches, wird auch noch mal einiges an Zeit vergangen sein.


    Prinzipiell hat mir ja gefallen, dass nicht alles im Buch genau beschrieben wird und vieles unklar oder schwammig bleibt, aber beim Zeitlichen bin ich irgendwie immer wieder ins Grübeln bekommen, wie das hinkommen kann.

    “Grown-ups don't look like grown-ups on the inside either. Outside, they're big and thoughtless and they always know what they're doing. Inside, they look just like they always have. Like they did when they were your age. Truth is, there aren't any grown-ups. Not one, in the whole wide world.” N.G.

  • Desfred lebt in Gilead, einem Staat, in dem alles überwacht wird. Sie ist eine „Magd“, deren einzige Aufgabe es ist, Kinder in die Welt zu setzen. Die Herrscherschicht ist machtvoll, wenn auch offensichtlich dünn besetzt, während die große Unterschicht bestimmte Aufgaben zu erfüllen hat. Desfred kannte noch ein freies, selbstbestimmtes Leben, deshalb schlummert tief in ihr der Gedanke an ein Entkommen. Doch wie soll sie angesichts der allgegenwärtigen Kontrolle schaffen?


    Margaret Atwood zeichnet das düstere Bild einer Zukunft, die man sich nicht wünscht, besonders, wenn man zu der Gesellschaftsschicht zählt, die zu Dienern degradiert wurden. Ständige Überwachung, Angst und Misstrauen selbst vor Freunden, die vielleicht Spitzel der Obrigkeit sind. Groteske Rituale, denen man sich nicht entziehen kann. Es gibt keine Individuen mehr, alle tragen eine Art Uniform, die ihre Aufgabe kenntlich macht. Die einzige Möglichkeit, sich zu Wehr zu setzen, ist gleichbedeutend mit dem Tod. Bedrückend für die Leser ist dabei die Erkenntnis, dass manche von Margaret Atwoods Visionen gar nicht so weit hergeholt sind.


    Die sprachliche Form passt zum Ablauf; auch wenn anfangs wenig passiert, kommt die unterschwellige Bedrohung gut zum Ausdruck. Schade, dass inhaltlich einige Fragen aufgeworfen werden, ohne Antworten darauf zu präsentieren, so wird z. B. nicht näher darauf eingegangen, wie dieses totalitäre Regime entstand oder was es mit den Kriegen auf sich hat, die erwähnt werden. Auch über Desfreds Schicksal kann ich nur mutmaßen. Ich bin nicht sicher, ob ich das aus dem Kontext richtig herausgelesen habe.


    Ein Buch, das zum Nachdenken anregt.


    4ratten

  • Ein Buch, das zum Nachdenken anregt.

    Das ist es sicherlich. Auch wenn bei mir die Lektüre schon Ewigkeiten her ist, kann ich mich immer noch an das beklemmende Gefühl bei der Lektüre erinnern.

    Into the water I go to lose my mind and find my soul.

  • Beklemmend war es wirklich. Ich habe beim Lesen unwillkürlich immer Vergleiche mit kommunistischen Staaten gezogen. Was ich von dort kenne, ähnelt den Beschreibungen von Atwood.


    dodo

    Das habe ich auch irgendwo gelesen. Aber im Fernsehen interessieren mich Dystopien noch weniger. Das ist nicht so das, was ich lesen oder sehen möchte. Manchmal verursacht es mir ein mulmiges Gefühl, dass frühe Dystopien oder auch Science Fiction mit ihren zum Erscheinungszeitpunkt utopisch anmutenden Visionen Jahrzehnte später der Realität manchmal recht nah kommen.

  • Dieses Buch wurde bereits 1985 geschrieben und ist immer noch aktuell. Frauen haben dafür gekämpft, dass sie gleichberechtigt sind. Nicht alles war geschafft, aber wir befanden uns auf einem guten Weg. Doch in letzter Zeit wendet verändert sich diese Entwicklung und orientiert sich rückwärts. Es ist erschreckend.

    Aber genauso erschreckend ist es, was Desfred in der Republik Gilead erlebt. Man hatte sie vor eine Wahl gestellt, die kaum eine war. Entweder sie wurde an der Mauer gehenkt oder sie fügt sich in das Leben als Magd. Als Magd hat sie Kinder zu gebären für Frauen, denen es nicht möglich ist, ein Kind auszutragen. Nur dafür ist sie da, ansonsten hat sie keine Rechte. Alles in Gilead ist Regeln unterworfen und diese Regeln verbieten Frauen, dass sie Lesen und Schreiben dürfen. Sie müssen seltsame Kleidung tragen, an der man erkennen kann, was sie sind und die den Blick einschränkt. Es gibt Wächter, Tanten, Marthas und Mägde. Aber eines kann man nicht verhindern, dass Frauen denken.

    Der Schreibstil ist flüssig zu lesen, die Atmosphäre aber bedrückend und düster. Wir erfahren diese Geschichte aus der Perspektive von Desfred. Sie hat nicht viel zu tun und daher Zeit, Zeit zum Nachdenken. Ihre Gedanken schweifen immer wieder ab in die Zeit vor Gilead, als sie noch über sich selbst bestimmen konnte und Mann und Kind hatte. Diese Gedanken sind nüchtern und sehr sprunghaft. Die Charaktere blieben mir zu fremd, als dass ich hätte mit ihnen fühlen können.

    Auch wenn ich finde, dass das Buch Längen hat, so war es durchaus auch spannend. Das Ende lässt einen etwas ratlos zurück, denn es bleibt vieles offen.

    Es ist eine bedrückende Geschichte über eine Gesellschaft, die totalitär und patriarchalisch geprägt ist und mich eigentlich nur wütend gemacht hat.


    3ratten:marypipeshalbeprivatmaus: