Julian Barnes - Vom Ende einer Geschichte (The Sense of an Ending)

Es gibt 13 Antworten in diesem Thema, welches 6.881 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von Breña.

  • Huhu ihr Lieben!


    So kurz dieses mit dem Man Booker Preis ausgezeichnete Buch war, so überwältigend war es zu lesen. Am treffendsten müsste ich es als sprachlichen Orgasmus bezeichnen. :breitgrins:


    Kaufen* bei

    Amazon
    Bücher.de
    Buch24.de

    * Werbe/Affiliate-Links

     

    Kaufen* bei

    Amazon
    Bücher.de
    Buch24.de

    * Werbe/Affiliate-Links


    Oritinaltitel: The Sense of an Ending
    Seiten: 192
    Erschienen bei: Kiepenheuer & Witsch


    Inhalt (von Amazon):
    Wie sicher ist Erinnerung, wie unveränderlich die eigene Vergangenheit? Tony Webster muss lernen, dass Geschehnisse, die lange zurückliegen und von denen er glaubte, sie nie mehr hinterfragen zu müssen, plötzlich in einem ganz neuen Licht erscheinen. Als Finn Adrian in die Klasse von Tony Webster kommt, schließen die beiden Jungen schnell Freundschaft. Auch später, nach der Schulzeit, bleiben die beiden in Kontakt. Bis die Freundschaft ein jähes Ende findet. Vierzig Jahre später, Tony hat eine Ehe, eine gütliche Trennung und eine Berufskarriere hinter sich, ist er mit sich im Reinen. Doch der Brief eines Anwalts, verbunden mit einer Erbschaft, erwecken plötzlich Zweifel an den vermeintlich sicheren Tatsachen der eigenen Biographie. Je mehr Tony erfährt, desto unsicherer scheint das Erlebte und desto unabsehbarer die Konsequenzen für seine Zukunft.


    Meine Meinung:
    Ich habe es in der Monatsrunde schon kurz erwähnt: Dieses Buch ist ein sprachlicher Genuss wie ich es selten zuvor erlebt habe. Julian Barnes hat seinen Protagonisten und seine Worte perfekt im Griff. Jedes Wort sitzt an der Stelle, an der es sitzen muss, jeder Satz ist vollendet, jeder Begriff perfekt gewählt. Selbst wenn die Geschichte an sich nicht gut wäre, hätte ich jede Seite dieses kurzen Romans genossen!


    Doch an Handlung und lebendigen Charakteren mangelt es auch nicht. Tony Webster und seine engsten Schulfreunde wachsen einem innerhalb einer Seite ans Herz. Sie sind überheblich, sie lesen die großen Philosophen und führen anregende - und in Adrians Fall überraschend erwachsene - Diskussionen mit ihren Lehrern darüber, wer Geschichte schreibt und was die Geschichtsbücher über die wahren Geschehnisse einer Zeit sagen. Dieses Thema erstreckt sich duch die gesamte Geschichte und Barnes ruft es mit geschickten Satzwiederholungen immer wieder in Erinnerung. Dabei kommen so schöne und treffende Sätze vor, dass ich mir beinahe das ganze Buch markiert habe:


    Zitat

    History is that certainty produced at the point where the imperfections of memory meet the inadequacies of documentation.


    Im zweiten Teil der Geschichte wartet sogar ein großes Mysterium auf uns Leser und hält uns bis zur aller letzten Seite gespannt. Denn mir ging es wie Tony - I just don't get it - bis die Auflösung kommt, und diese ist wirklich auf befriedigende Weise schockierend, hatte ich keine Ahnung, was zur Hölle eigentlich los ist.
    Julian Barnes ist auf meiner ganz-bald-lesen-Liste nach oben gerutscht und dieses Buch, so still es ist, würde ich jedem ans Herz legen, der eine gute Geschichte in wunderschöner Sprache zu schätzen weiß.


    5ratten


    Liebe Grüße,
    Wendy

    Jahresziel: 2/52<br />SLW 2018: 1/10<br />Mein Blog

  • Meine Meinung:


    Aufgrund von Wendys euphorischer Meinung zu Julian Barnes' kurzen Roman, habe ich mir das Buch sofort zugelegt und wurde nicht enttäuscht. Barnes versteht sich hervorragend darauf, mit sehr wenigen Mitteln und einem einfachen, eher im Realismus angesiedeltem Plot, eine unglaublich packende Atmosphäre zu schaffen. Obwohl die beiden Bücher sehr wenig mit einander zu tun haben, hat es mich ein wenig an Conrads Herz der Finsternis erinnert, denn bei beidem Bücher hatte ich jedes Mal, nachdem ich das Buch zugeschlagen habe, das Gefühl wieder aufzutauchen und erstmal ein wenig Nachdenken zu müssen.


    Im Prinzip schreibt Barnes über das Altern und darüber, wie man über das eigene Leben reflektiert: War man damals wirklich verliebt? Und warum erscheint diese "Liebe" dann im Nachhinein so unwichtig und szenenhaft? Und weshalb bleiben manche Erinnerungen so detailliert im Gedächtnis und andere scheinen wie verdrängt? In Vom Ende einer Geschichte geht es aber nicht darum, ob man etwas bereut oder ein anderes Leben hätte führen können und genau deshalb driftet die Geschichte nicht in "philosophisches Blabla" ab, sondern stellt Fragen, die sich vermutlich viele Menschen schon gefragt haben.


    Insgesamt ein sehr bewegendes Buch, das sprachgewaltig ist ohne zu angestrengt und aufgesetzt zu wirken. Ich stimme Wendy voll und ganz zu: "Jedes Wort sitzt!"


    5ratten

    &quot;This was another of our fears: that Life wouldn&#039;t turn out to be like Literature&quot; (Julian Barnes - The Sense of an Ending)

  • Ihr beiden habt mir mit euren Rezis Barnes wieder ins Gedächtnis gebracht und per Zufall konnte ich die englische Ausgabe in der Bibliothek ausleihen.
    Heute war dadurch ein sehr nachdenklicher Lesetag...


    Meine Meinung:
    Es gibt Romane in denen steckt so viel das man das Gefühl hat 500 Seiten gelesen zu haben, obwohl es doch nur 150 waren. Vom Ende einer Geschichte ist so ein Roman. Die Veränderung, die Barnes Figur aufgrund der, immer neuen Erkenntnisse über die Ereignisse in der Vergangenheit, durch macht ist faszinierend zu beobachten, weil sie einfach so realistisch erscheint. Wie sich die Sicht auf einen Menschen ändern kann nur, weil man auf einmal neue Informationen hat, die man vorher nicht hatte. Eigentlich macht das sogar ein wenig Angst, denn was bedeutet dann die eigene Sichtweise auf Menschen, die einem in diesem Moment nahe stehen? Und es zeigt auch das man eben über jeden Menschen nie auslernt und sich eigentlich nie eine abschließende Meinung bilden kann... man kennt nur einen Ausschnitt. Und wie sehr man dabei auch auf gegenseitiges Vertrauen angewiesen ist.


    Das erinnert mich an die Arbeit eines Historikers. Denn ein Blickwinkel und eine Einschätzung entsteht durch die Erkenntnisse, die man in diesem Moment auf ein Ereignis hat. Interessant dabei ist das Geschichte auch im Roman erwähnt wird und vor allem Adrians Interpretation von Geschichte spielt eine Rolle darin.[Adrian ist einer der besten Freunde der Hauptfigur in seiner Jugend und hat ihn wohl am stärksten beeinflusst]
    Obwohl im ersten Moment etwas unspektakulär, konnte ich nicht aufhören zu lesen und habe mich keine Seite lang gelangweilt. Im Gegenteil, gerade das man als Leser gemeinsam mit Tony langsam erfährt was er damals wohl alles nicht verstanden hat, macht es packend. Ich habe auch selbst immer wieder überlegt, wie ich zu bestimmten Ereignissen stehe, die ich als Jugendlicher erlebt habe.


    Sprachlich balsam für die Seele, es ist verständlich warum der Autor immer wieder für den Bookerpreis nominiert wird und ihnfür diesen Roman auch erhalten hat. Von Arthur and George war ich ja sehr begeistert und muss mich fragen warum ich bisher nicht mehr von ihm gelesen habe. Andererseits ist er ein Autor dessen Romane ich mir aufspare, aus Angst zu schnell am Ende damit zu sein.


    5ratten

  • Vor dem Hintergrund der aktuellen Literaturpreisverleihungen und weil ich Lust hatte auf etwas zeitgenössischeres bin ich über die Preisträger des Man Booker Preises auf dieses Buch gestoßen.
    Ich wusste nicht viel über dieses Buch und habe mich von der Leseproben leiten und überzeugen lassen und habe die Geschichte bis zum Ende genossen.


    Die Sprache und der Stil des Romans haben auf mich einerseits sehr leicht und flüssig gewirkt, andererseits auch sehr poetisch ohne dass es zu irgendeinem Zeitpunkt gewollt oder konstruiert wirkt.
    Auch hat mich das Buch, das in zwei Teile geteilt ist, bis zur letzten Seite überrascht. Während des ersten Teils hatte ich noch einen ganz anderen Verlauf der Geschichte erwartet und während des zweiten Teils habe ich bis zur letzten Seite wiederum auf etwas gewartet, was eigentlich gar nicht kommt. Enttäuscht bin ich trotzdem nicht, denn das was Barnes anstelle dessen liefert, ist ohnehin besser und etwas, das man nicht schon aus unzähligen anderen Büchern kennt.
    Was Barnes über das Konstrukt der Erinnerungen schreibt, hat sehr viel Wahres in sich und so bleiben auch für die Hauptfigur des Romans nur gewisse Schlüsselszenen aus seiner Vergangenheit abrufbar und selbst hier füllt er Erinnerungslücken mit vermeintlich Tatsächlichem auf und muss sich am Ende fragen, was tatsächlich wahr war und was nicht und wie viele dieser Wahrheiten es wohl gibt. Positiv aufgefallen ist mir hier, dass vieles, was man heute über das menschliche Gedächtnis weiß, korrekt im Roman wiedergegeben wird und zwar ohne, dass es erklärt wird, sondern indem Barnes seine Hauptfigur dieses erleben und reflektieren lässt.
    Auch dieses Gefühl, das eigene Leben nicht mutig genug gelebt zu haben, konnte ich trotz meines Fehlens an Erfahrung in Lebensjahren, sehr gut nachvollziehen. Deprimierend fand ich, dass das eigene Leben für Tony am Ende eher ein Aneinanderreihen von Ereignissen ist, die alle aus seiner Sicht sehr unspektakulär und wenig mysteriös sind. Hier wäre es sicherlich spannend, andere Perspektiven einzunehmen und daraus aus denselben "Fakten" einen ganz anderen Eindruck zu erwecken.


    Die Auflösung am Ende des Romans fand ich zwar überraschend, aber gerade die letzten paar Seiten waren mir dann doch ein wenig abrupt. Ich vermute mal, dass dies von Barnes auch bewusst so gewollt war, aber meine Neugierde bleibt doch ein wenig bestehen und so hätte ich gerne mehr über Veronica erfahren :zwinker:

    “Grown-ups don't look like grown-ups on the inside either. Outside, they're big and thoughtless and they always know what they're doing. Inside, they look just like they always have. Like they did when they were your age. Truth is, there aren't any grown-ups. Not one, in the whole wide world.” N.G.

  • Kurz vor dem Schulabschluss kommt ein Neuer in Tonys Klasse. Adrian Finn ist ein ruhiger, aber blitzgescheiter Junge, der gern Dinge hinterfragt und der Philosophie zugeneigt ist, und übt auf Tony und seine beiden besten Freunde eine gewisse Faszination aus. Doch schon bald trennen sich die Wege der vier, als sie zu studieren beginnen (Adrian natürlich in Cambridge), und die Bande der Freundschaft lockern sich, während Tony eine recht holprige Beziehung mit der forschen Veronica eingeht.


    Vierzig Jahre später ist Tony geschieden, die Tochter ist aus dem Haus, das Arbeitsleben neigt sich dem Ende entgegen. Er hat sich eingerichtet in seinem Leben, das nicht (mehr) von großen Höhen und Tiefen gekennzeichnet ist und stetig seinen gewohnten Gang geht. Bis er einen Brief von einem Anwalt erhält, der ihn förmlich zwingt, sich erneut mit seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen und unangenehmen Wahrheiten ins Auge zu blicken


    Das Buch umfasst gerade einmal 150 Seiten, bietet aber jede Menge Stoff zum Nachdenken und besticht trotz (oder gerade wegen?) der komprimierten Form durch eine wunderschöne Sprache. Tony ist kein Mensch, der sein Leben aktiv in die Hand nimmt und es steuert, sondern er gibt sich damit zufrieden, sich dahin treiben zu lassen, wohin der Fluss des Lebens ihn gerade spült, ohne großen Widerstand, aber auch ohne große Freuden. Erst jetzt, als ihn der Anwaltsbrief wachrüttelt, muss er sich eingestehen, dass er womöglich viel mehr aus den letzten Jahrzehnten hätte machen können. Tonys Schicksalsergebenheit und fatalistische Weltsicht tut manchmal schon regelrecht weh.


    Das Geheimnis, das sich zunächst mehr zwischen den Zeilen andeutet, sorgt für zusätzliche Spannung. Nicht im geringsten reißerisch, aber auf subtile Weise packend. Gepaart mit den existentiellen Betrachtungen, die den Leser unweigerlich über das eigene Leben nachdenken lassen, ergibt das eine nicht immer leichte, aber lohnende Lektüre, die hochinteressante Fragen aufwirft und auch sprachlich überzeugt.


    Merkwürdigerweise empfinde ich das Buch jetzt, einen Tag, nachdem ich es zugeklappt habe, deutlich positiver als während des Lesens oder direkt danach. Tonys passive Art, Veronicas oft übermäßig schroffes Verhalten und die Tatsache, dass man manche Absätze zweimal lesen muss, um sie wirklich voll zu erfassen, machten die Lektüre häufig anstrengend, doch die angesprochenen Themen (um nur einige zu nennen: Was ist die Zeit eigentlich genau? Wie zuverlässig sind Erinnerungen wirklich? Wann ist ein Leben erfüllt und wann nur Zeitverschwendung?) hallen immer noch nach.


    3ratten + :marypipeshalbeprivatmaus:

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





    Einmal editiert, zuletzt von Valentine ()


  • Deprimierend fand ich, dass das eigene Leben für Tony am Ende eher ein Aneinanderreihen von Ereignissen ist, die alle aus seiner Sicht sehr unspektakulär und wenig mysteriös sind. Hier wäre es sicherlich spannend, andere Perspektiven einzunehmen und daraus aus denselben "Fakten" einen ganz anderen Eindruck zu erwecken.


    Das habe ich ähnlich empfunden. Natürlich hat er kein umwerfend spektakuläres Leben geführt, aber dass er gar keine Lichtblicke darin zu finden vermag, fand ich schon sehr traurig.

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Das habe ich ähnlich empfunden. Natürlich hat er kein umwerfend spektakuläres Leben geführt, aber dass er gar keine Lichtblicke darin zu finden vermag, fand ich schon sehr traurig.


    ---und genau aus diesem Grund - weil er kein spektakuläres Leben führte - ist diese Geschichte so authentisch.

  • Julian Barnes – Vom Ende einer Geschichte

    Kaufen* bei

    Amazon
    Bücher.de
    Buch24.de

    * Werbe/Affiliate-Links


    OT: The Sense of an Ending
    OA: 2011
    182 Seiten
    ISBN: 978-3462044331


    Inhalt:
    Wie sicher ist Erinnerung, wie unveränderlich die eigene Vergangenheit? Tony Webster muss lernen, dass Geschehnisse, die lange zurückliegen und von denen er glaubte, sie nie mehr hinterfragen zu müssen, plötzlich in einem ganz neuen Licht erscheinen.
    Als Finn Adrian in die Klasse von Tony Webster kommt, schließen die beiden Jungen schnell Freundschaft. Sex und Bücher sind die Hauptthemen, mit denen sie sich befassen, und Tony hat das Gefühl, dass Adrian in allem etwas klüger ist als er. Auch später, nach der Schulzeit, bleiben die beiden in Kontakt. Bis die Freundschaft ein jähes Ende findet.Vierzig Jahre später, Tony hat eine Ehe, eine gütliche Trennung und eine Berufskarriere hinter sich, ist er mit sich im Reinen. Doch der Brief eines Anwalts, verbunden mit einer Erbschaft, erweckte plötzlich Zweifel an den vermeintlich sicheren Tatsachen der eigenen Biographie. Je mehr Tony erfährt, desto unsicherer scheint das Erlebte und desto unabsehbarer die Konsequenzen für seine Zukunft.Ein Text mit unglaublichen Wendungen, der den Leser auf eine atemlose Achterbahnfahrt der Spekulationen mitnimmt.


    Eigene Meinung:
    Ich war erstaunt. Das erste Buch welches ich von diesem Autor las, habe ich nach wenigen Kapiteln abgebrochen, da ich weder mit der Geschichte noch dem Schreibstil des Autors warm wurde. Dieses Buch jedoch, habe ich an einem Tag gelesen und es hat mir ausgesprochen gut gefallen.


    Es ist kein actiongeladenes Buch, sondern es plätschert vor sich hin; es geschieht generell nicht viel, außer dass wir ganz kurz etwas über die Jugendjahre des Protagonisten erfahren und dann mit einem Satz 40 Jahre zurücklegen und nun mit dem Protagonisten in seiner Rentenzeit auf sein Leben zurückblicken. Dieser große Zeitsprung war zunächst ein wenig verstörend für mich, denn ich dachte, „Hey, fehlt da nicht ne ganze Menge, die so ein Leben ausmacht“ aber dann bemerkte ich sehr schnell, dass der weitere Verlauf des Lebens des Protagonisten irrelevant für die Geschichte war.
    Es geht hier um Reflexionen der gelebten Zeit, die Konsequenzen vergangener Taten und ebenso um Fehler und Reue.
    Barnes schreibt hier eine Geschichte, wie sie vielen von uns passieren könnte, ohne dass es uns bewusst ist. Das macht diese Novelle so faszinierend, denn zu Beginn wissen wir gar nicht, was eigentlich das Hauptthema dieser Reflexionen ist. Nach und nach setzt sich, wie ein Puzzle, ein Bild zusammen und erst auf den letzten Seiten erkennen wir die wahre Tragödie und Tragweite des Geschehenen.
    Dem Autor gelingt es, den Leser an die Hand zu nehmen und mit ihm Schritt für Schritt Charaktere und Emotionen zu beschreiben und zum Leben zu erwecken.
    Kurz um, dieses Buch ist kurzweilig und regt zum nachdenken über Reden, Handeln und die entsprechenden Konsequenzen an.


    4ratten

  • 5ratten


    Irgendwann kommt ein Zeitpunkt, an dem man feststellt, dass die noch vor einem liegende Lebensspanne deutlich kürzer ist als die bereits vergangene. Es ist der Moment, ab dem man beginnt, sich öfter auf das Vergangene zu besinnen und sich Fragen stellt wie: Bin ich zufrieden mit meinem Leben? War es erfüllt? Lebte ICH oder wurde ich gelebt? Was wurde aus meinen Träumen, Wünschen, Sehnsüchten?
    Tony Webster, um die 60 und im Ruhestand, geschieden, im Großen und Ganzen mit sich im Reinen, ereilt dieser Moment, als er einen Brief eines Anwaltbüros erhält, in dem ihm mitgeteilt wird, dass er von der Mutter einer früheren Freundin eine kleine Erbschaft zu erwarten hat: 500 Pfund und das Tagebuch seines bewunderten Jugendfreundes Adrian. Wie diese in den Besitz des Buches kam, ist Tony völlig unklar und er beginnt mit Nachforschungen, die ihn in seine eigene Vergangenheit zurückführen und mit manchem konfrontieren, das er in völlig anderer Erinnerung hat.
    Je intensiver er sich damit befasst, umso mehr muss er erkennen, dass seine Wahrheit nicht unbedingt die einzige und wahre ist und in schonungsloser Offenheit macht er sich klar, wieviel Selbsttäuschung in seinem Leben herrscht. Immer wieder kommen Fragen auf, die man sich auch selbst stellen kann und deren Beantwortung die Lesezeit des doch recht dünnen Büchleins (174 Seiten) deutlich verlängern können.
    Es ist eine leise, zurückhaltende Geschichte ohne großen Spannungsbogen und vergleichsweise handlungsarm. Dennoch hat sie einen (zumindest für mich) überraschenden Schluss und es fiel mir schwer, das Buch vor dem Ende aus der Hand zu legen. Es regt zum Nachdenken über das eigene Leben an - und hoffentlich, bevor es zu spät ist.

    Je mehr sich unsere Bekanntschaft mit guten Büchern vergrößert, desto geringer wird der Kreis von Menschen, an deren Umgang wir Geschmack finden.&nbsp; &nbsp; Ludwig Feuerbach (1804 - 1872)

  • Ich wusste doch, dass mir der Titel bekannt vorkommt. Das Buch habe ich heute in einem Antiquariat in Heidelberg gefunden. Irgendwo hatte es leise geklingelt und die Suchfunktion hat die Quelle des Geräuschs gefunden :zwinker: Bei so vielen positiven Rezis freue ich mich so richtig auf das Buch.

    Into the water I go to lose my mind and find my soul.

  • Mittlerweile kommt mir nicht nur der Titel bekannt vor. Ich könnte schwören, dass ich das Buch schon einmal gelesen habe, weil mir vieles bekannt vorkommt. Aber ich finde nirgends etwas Schriftliches von mir dazu, deshalb ist es wahrscheinlicher, dass ich ein ähnliches Buch gelesen habe. Welches war das bloß :gruebel:

    Into the water I go to lose my mind and find my soul.

  • Zitat

    So kurz dieses mit dem Man Booker Preis ausgezeichnete Buch war, so überwältigend war es zu lesen. Am treffendsten müsste ich es als sprachlichen Orgasmus bezeichnen. :breitgrins:


    Eine sehr schöne Bezeichnung :breitgrins:


    Ich habe das Buch auch gelesen und auch schon verschenkt, bisher ist es überall mit Begeisterung aufgenommen worden.

  • Meine Meinung
    Manchmal sieht man Dinge, aber man kann nicht erkennen. Tony Webser erkennt, dass es ihm so in seiner Jugend ergangen ist. Aber er erkennt nicht, dass es ihm immer noch so geht. Veronicas Vorwürfe, er würde mal wieder nichts verstehen, kann er deshalb nicht nachvollziehen. Erst ganz zum Schluss versteht er, was sie gemeint hat.


    Tonys Person wirkt authentisch, deshalb fand ich seine Geschichte so berührend. Er lebt nicht sein Leben, sondern es lebt ihn. Er wehrt sich nicht gegen Veränderungen, auch wenn er sie nicht schön findet. Ich habe nicht den Eindruck gewonnen, dass er Dinge wirklich hinterfragt hat. Genau das fand ich schade, denn eigentlich hat das nicht zu seinem Charakter gepasst. Dass Adrian sich umgebracht hat, schien ihn nicht sehr berührt zu haben. Vielleicht weil er zu dem Zeitpunkt im Ausland war. Ich habe den Eindruck gewonnen, dass der Selbstmord eines Mitschülers ihn mehr bewegt hat.


    Die Hartnäckigkeit, mit der er später Veronica verfolgt hat, hat mich überrascht. Das schien nicht zu seinem eher passiven Charakter zu passen. Aber das zeigt auch, dass die Geschichte Tony doch mehr berührt hat, als er sich eingestehen wollte.


    Kurz: es ist eine wunderbare Geschichte.
    5ratten

    Into the water I go to lose my mind and find my soul.

  • Meine Meinung bildet ein deutliches Gegengewicht zu den begeisterten Stimmen hier…


    Barnes „The Sense of an Ending” zog bei mir ein, weil mich die Reaktionen hier im Forum neugierig gemacht hatten. Das ist inzwischen elf Jahre her und so habe ich mit dem Buch nichts mehr verbunden außer der Empfehlung aus dem Forum. Ich mag das ganz gerne, inhaltlich unvoreingenommen in eine Geschichte zu starten.


    Die Novelle ist in zwei Teile aufgeteilt und beginnt mit Erinnerungen aus der Jugend des Erzählers. Vielleicht habe ich mich in der einen oder anderen Situation an mich selbst erinnert gefühlt, wenn die Jungs neunmalklug philosophische Strömungen diskutieren oder versuchen, ihre Lehrer zu provozieren, und sich dabei immer enorm klug vorkommen. Diese rund 50 Seiten waren durchaus unterhaltsam, auch wenn ich auf die pubertären Beziehungsversuche hätte verzichten können – doch die sind relevant für den weiteren Verlauf.


    Die folgenden zwei Drittel finden deutlich später statt. Der Protagonist ist inzwischen im Ruhestand, geschieden und Großvater. Seine Erinnerungen sind verzerrt und werden durch unerwartete Ereignisse auf die Probe gestellt. In diesem zweiten Teil wird deutlich, wie Barnes mit Metaebenen spielt, die Aussprüche der Jugendlichen zur Geschichtsschreibung und zum Erinnerungsvermögen aufgreift und verschiedene Vexierbilder schafft. Die Unzuverlässigkeit des Ich-Erzählers nutzt er dabei geschickt und greift auch die Frage der Zuverlässigkeit von „Augenzeugen“ auf.


    Leider finden diese Stilmittel alle so offensichtlich ihren Weg in die konstruierte Geschichte, dass ich zunehmend genervt davon war. Und als kurz vor Schluss alles in einer hanebüchenen Enthüllung gipfelte, war ich fast beleidigt, was der Autor sich eigentlich einbildet mir als Leserin vorsetzen zu können. Kurz hatte ich Mitleid mit dem Protagonisten, der mehrfach zu hören bekam, dass er einfach nichts verstünde – kein Wunder, wenn das die Tatsachen sein sollen.


    Vielleicht wurde meine Abneigung zusätzlich befeuert, weil es sich um die Erinnerungen eines weißen Mannes handelt, der zwischen Selbstgefälligkeit und Selbstmitleid schwankt und dessen Selbstbild mir dubios erschien. In mancher Hinsicht war er mit sechzig nicht reflektierter als mit achtzehn.


    2ratten


    …weil die Diskussionen um Historienbildung und Erinnerung mir gut gefallen haben.

    "Natürlich kann man sein ohne zu lesen, ohne Bücher, aber ich nicht, ich nicht." J. L. Borges