Sandra Roth - "Lotta Wundertüte - Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl"

Es gibt 9 Antworten in diesem Thema, welches 3.393 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von Annette.

  • Inhaltsangabe:


    Herbst 2009. Sandra Roth ist im neunten Monat schwanger. Mit Lotta, einem Wunschkind, die Vorfreude der Familie ist groß. Doch bei einer Routineuntersuchung erfährt sie, dass das Gehirn ihrer Tochter nicht ausreichend mit Blut versorgt wird. Welche Konsequenzen diese Gefäßfehlbildung für das Leben von Lotta haben wird, können die Ärzte nicht vorhersagen. »Lotta ist eine Wundertüte«, sagt ein Arzt. »Man weiß nie, was drin ist.« Lotta könnte ein »Rollstuhl-Baby« sein, so nennt das ihr zwei Jahre älterer Bruder Ben. Während er auch gerne einen Rollstuhl hätte, weil man dann nicht selbst laufen muss, setzen sich die Eltern mit anderen Fragen auseinander: Wie lebt es sich mit einem behinderten Kind in einer Gesellschaft, die alles daransetzt, Behinderungen und Krankheiten abzuschaffen? Wie reagieren Freunde, Nachbarn, Kollegen? Und was wird Lotta für ein Leben haben – eingeschränkt, ausgegrenzt? Oder angenommen und geliebt?Authentisch und liebevoll erzählt Sandra Roth von den ersten drei Jahren mit Lotta, Jahre voller Kämpfe, Überraschungen, Leid und Glück, an deren Ende wir eine lächelnde Lotta im Kindergarten erleben. Ein Buch voll großer Fragen, das Mut macht, auch den schwierigen Momenten im Leben mit Optimismus und Humor zu begegnen. Denn: »Zum Lachen muss man nicht laufen können.«


    Autoreninfo:


    Sandra Roth, geboren 1977, studierte Politikwissenschaften und Medienberatung in Bonn, Berlin und den USA. Nach ihrem Diplom absolvierte sie die Henri-Nannen-Journalistenschule in Hamburg und arbeitet seitdem als freie Autorin, u.a. für Die Zeit, die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung und Brigitte. Ihre Themen reichen von Wissenschaft und Bildung bis zu Kultur und Technik. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in Köln. »Lotta Wundertüte« ist ihr erstes Buch.


    Meine Meinung:


    Titel: Jeder muss seine eigenen Entscheidungen treffen…


    Dieses wundervolle Sachbuch wurde mir empfohlen und nach dem Lesen des Buches möchte ich diese Lektüre auch wirklich nicht mehr missen.


    Doch worum geht es genau:


    Sandra Roth ist Mutter eines gesunden Jungen und ist im Herbst 2009 schwanger mit Wunschkind Nummer 2. Doch dann die böse Nachricht: Etwas stimmt nicht mit dem ungeborenen Kind. Voraussichtlich wird es behindert sein, doch entscheidet man sich im neunten Monat wirklich noch für eine Abtreibung?


    Frau Roth entscheidet sich für die Geburt ihrer Tochter und lässt uns an dem Alltag mit einem behinderten Kind teilhaben. Offen und ehrlich schildert sie hier, dass es eben nicht nur schöne Momente gibt und man oft am Zweifeln ist, ob die getroffene Entscheidung auch wirklich die richtige war, denn in den ersten Lebensmonaten heißt es für Lotta erst einmal nur kämpfen ums Überleben. Die Autorin berichtet von starrenden Passanten, notwendigen Therapien, Alltagsproblemen und den regelmäßigen Kämpfen mit Ämtern, um Fördermittel und Unterstützung zu bekommen. Auch die Belastung der Beziehung der Eltern wird hier beleuchtet.


    Das Buch rüttelt wach und bringt einen als Leser reichlich ins Grübeln, denn man stellt sich bald selbst Fragen. Wie hätte ich entschieden? Starre ich auch behinderte Mitmenschen an? Warum ist behindert sein nicht normal, wenn jeder 10. Deutsche davon betroffen ist? Wieso sind andere Länder bei Integration und Inklusion deutlich fortschrittlicher als wir?


    Das Buch hat mich wirklich sehr berührt und ich bin der Autorin unheimlich dankbar dafür, denn es ist sicher nicht leicht über etwas zu schreiben, das das eigene Leben komplett umgekrempelt hat.


    Fazit: Ein Buch, das in meinen Augen jeder gelesen haben sollte, es rüttelt wach und regt zum Nachdenken an. Ich kann nur meine absolute Leseempfehlung aussprechen und bin immer noch sehr bewegt…


    Bewertung: 5/ 5 Sternen


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    &WCF_AMPERSAND"Das Buch als Betriebssystem ist noch lange nicht am Ende&WCF_AMPERSAND" (H.M. Enzensberger)

  • Hallo nicigirl,


    danke für die Rezi.


    Das klingt auf jeden Fall lesenswert.


    An einem Punkt störe ich mich immer:

    Zitat

    Das Buch rüttelt wach und bringt einen als Leser reichlich ins Grübeln, denn man stellt sich bald selbst Fragen. Wie hätte ich entschieden? Starre ich auch behinderte Mitmenschen an? Warum ist behindert sein nicht normal, wenn jeder 10. Deutsche davon betroffen ist? Wieso sind andere Länder bei Integration und Inklusion deutlich fortschrittlicher als wir?


    ich bin selbst mit einem behinderten Bruder aufgewachsen, der dazu noch stark übergewichtig war.
    Meine Mutter hatte genau diesen Kritikpunkt: Alle starren ihn immer an.
    Am Ende stelle sich heraus, dass er sehr beliebt gewesen war und die Menschen in der Umgebung nicht nur aus Mitleid mit ihm Kontakt gehalten hatten.


    Den Kritikpunkt Anstarren finde ich sehr, sehr schwierig.


    Ich finde es normal, dass man Menschen anschaut, wenn sie anders als erwartet sind.
    Man schaut das kleine Mädchen an, das vor Freude auf dem Bürgersteig tanzt.
    Man schaut die Skateboarder mit ihren Tricks an.
    Man schaut besonders schöne Menschen an.


    Nur wenn man Angst hat, dass man jemanden diskriminiert, schaut man bewusst weg - damit man niemanden anstarrt.


    Ich finde es auch normal, dass man beim Treffen mit behinderten Menschen (nicht zwingend) Fragen hat: Was hat er: Eine vorübergehende Krankheit oder eine bleibende Behinderung?
    Kann er bspw. aus dem Rollstuhl aufstehen, weil ihm das Gehen nur schwerfällt, oder ist er dazu gar nicht in der Lage?
    Und auch: Ist er auch geistig behindert oder nur körperlich?
    D.h. wenn ich ihn nicht verstehe, weil er einen Sprachfehler hat, muss ich dann auch besonders einfach mit mit ihm reden, weil er mich sonst nicht versteht, oder ist geistig alles in Ordnung?


    Das sind für mich schon berechtigte Fragen.


    Ein kleines Kind im Rollstuhl ist ganz sicher keine Alltäglichkeit, und das Leute dann schauen (wollen), fände ich normal.
    Im Gegenteil, bei allzu aggressiven Gegenmaßnahmen (meine Mutter hat dann z.B. immer die Schauenden ihrerseits angestarrt, aber es gibt ja auch Menschen, die sofort los blaffen) könnte man in die Lage kommen, sich zu beschweren, dass keiner was mit dem eigenen Kind zu tun haben will.


    Am besten baut man Hemmungen und Vorurteile ab, indem man einfach demonstriert, dass der Betroffene aus seiner Sicht ein ganz normales Leben führen kann, also mit ihm ungezwungen umgeht.
    Das sehen die anderen und halten sich (meist) selbst daran.


    Aus meiner Sicht wird ein ungezwungener Umgang mit Behinderten (und anderen "Anderen") und eine Integration erst dann möglich, wenn auch für Fragen bzgl. des Umgangs und der Behinderung selbst (oder dem anderen "Anderen") keine Tabus mehr bestehen.
    Ansonsten ist man natürlich verunsichert, weil immer Fragen bleiben, die man nicht stellen darf, die man umschiffen muss, zu denen man ständig eigene Hypothesen aufbaut.
    Das führt wiederum zu einem doch merklich anderen Umgang mit dem Anderen.


    Erst wenn solche Tabus verschwunden sind, kann es aus meiner Sicht eine echte Integration geben, also ein Miteinander, bei dem eben keiner mehr gezielt anders behandelt wird, egal, ob aus Unwissenheit, Bosheit, Herablassung oder "falschem Mitleid".


    Liebe Grüße von
    Keshia

    Ich sammele Kochbücher, Foodfotos und Zitate.


    <3 Aktuelle Lieblingsbücher: "The good people" von Hannah Kent, "Plate to pixel" von Hélène Dujardin und "The elegance of the hedgehog" von Muriel Barbery.

  • Das Buch ist mir in den letzten Wochen auch schon öfter begegnet, deshalb habe ich mich gefreut hier eine Meinung dazu zu lesen.


    Das Leben mit kleinen Kindern ist schon nicht immer einfach, das Leben mit einem behinderten Kind stelle ich mir unheimlich belastend für die ganze Familie vor, auch wenn es natürlich genausoviele schöne Momente gibt, so wie mit nicht behinderten Kindern.


    Bei deiner Rezension bin ich genau am selben Punkt hängen geblieben wie Keshia.
    "Starre ich behinderte Menschen an? Warum ist behindert sein nicht normal, wenn jeder 10. Deutsche davon betroffen ist?"


    Zum Anstarren habe ich die gleiche Meinung wie Keshia.
    Man schaut ja den ganzen Tag andere Menschen an, aus verschiedensten Gründen.


    Nur wenn man Angst hat, dass man jemanden diskriminiert, schaut man bewusst weg - damit man niemanden anstarrt.


    Es ist eine schwierige Situation.
    Von stehen bleiben und ewig anstarren wie ein Tier im Zoo halte ich auch nichts, und ich finde es sehr schlimm, wenn jemand so etwas macht. Bei uns sind das vorwiegend alte Menschen, die so extrem starren.
    Aber normal hinschauen? Das sollte eigentlich kein Problem sein.
    Die Situation ist so schwierig, weil man selbst nicht weiß, wie der behinderte Mensch eingestellt ist. Manche gehen mit ihrer Behinderung sehr locker um und haben sich mit ihrer Situation sehr gut arrangiert. Sie beziehen es nicht gleich auf sich und ihre Behinderung, wenn sie von fremden Menschen angeschaut werden.
    Andere hadern mit sich und ihrer Behinderung, fühlen sich nicht wohl und sehen jeden Blick als Abwertung ihrer Person.
    Außerdem schwebt in Deutschland das Wort DISKRIMINIERUNG über allem und jedem.
    Also fährt man den sicheren Weg: bevor sich jemand angegriffen oder diskriminiert fühlt, schaut man eben gar nicht hin.
    Dieses krampfhafte Wegsehen finde ich aber viel schlimmer als das normale Hinsehen.


    Genauso das Gespräch mit einem behinderten Menschen.
    Dem einen macht es nichts aus, darauf angesprochen zu werden, der andere fühlt sich beim Ansprechen der Behinderung genau darauf reduziert.
    Als Gegenüber weiß man also nie, wie man sich verhalten soll.


    Schwierig.


    Beim Thema Inklusion und Integration gebe ich dir Recht.
    Schon im Kindergartenalter sollte der Grundstein für das normale Zusammenleben von behinderten und nichtbehinderten Kindern gelegt werden.
    Dann müßte man sich um Integration keine Sorgen machen.

  • Zitat

    Beim Thema Inklusion und Integration gebe ich dir Recht.
    Schon im Kindergartenalter sollte der Grundstein für das normale Zusammenleben von behinderten und nichtbehinderten Kindern gelegt werden.
    Dann müßte man sich um Integration keine Sorgen machen


    Da ist man gerade dran, vor allem in den Schulen, aber die Umsetzung ist größtenteils echt gruselig. Ein ewiges Theater, da könnte ich mittlerweile auch Bücher drüber schreiben, von Personalmangel bis zu Kompetenzgerangel ist alles dabei :rollen:

    LG Gytha

    “Dieses Haus sei gesegniget”

  • Ich muss ehrlich gesagt gestehen, dass es für mich allgemein sehr schwierig war meine Rezi in die richtigen Worte zu packen, denn ich komme von einem kleinen Dorf und da gibt es kaum behinderte Menschen und wenn, dann sind diese schon meist sehr alt. Zudem habe ich auch keinerlei Erfahrung mit Behinderten, vielleicht habe ich mich da etwas unglücklich ausgedrückt.


    Aber es geht auch einiges anders, das habe ich schon live an einer Schule in England gesehen, denn dort gehen "normale" Kinder und Jugendliche zusammen mit behinderten Kindern auf ein und dieselbe Schule und für alle ist das völlig normal. Ich war da als Deutsche erstmal geschockt, aber im positiven Sinne, das dort so ein Einklang herrschte, während ich in Deutschland immer das Gefühl habe, dass wir unsere Behinderten wegsperren.

    &WCF_AMPERSAND"Das Buch als Betriebssystem ist noch lange nicht am Ende&WCF_AMPERSAND" (H.M. Enzensberger)


  • Aber es geht auch einiges anders, das habe ich schon live an einer Schule in England gesehen, denn dort gehen "normale" Kinder und Jugendliche zusammen mit behinderten Kindern auf ein und dieselbe Schule und für alle ist das völlig normal. Ich war da als Deutsche erstmal geschockt, aber im positiven Sinne, das dort so ein Einklang herrschte, während ich in Deutschland immer das Gefühl habe, dass wir unsere Behinderten wegsperren.


    Ich war in Berlin auch auf so einer Schule. :winken:
    Körperlich- und Sprachbehindert.


    EDIT: Nicht ich. Aber ein paar gute Schulfreunde von mir.

    Einmal editiert, zuletzt von chásma ()


  • Ich muss ehrlich gesagt gestehen, dass es für mich allgemein sehr schwierig war meine Rezi in die richtigen Worte zu packen, denn ich komme von einem kleinen Dorf und da gibt es kaum behinderte Menschen und wenn, dann sind diese schon meist sehr alt. Zudem habe ich auch keinerlei Erfahrung mit Behinderten, vielleicht habe ich mich da etwas unglücklich ausgedrückt.


    Hey, das war eine gute Rezi. Ich glaube auch nicht, dass jemand gemeint hat, Du hättest Dich unglücklich ausgedrückt, eher eine Weiterführung der Fragen die Du Dir gestellt hast :smile:
    Sich unsicher zu sein wie man sich am Besten verhält, wenn man keinerlei Erfahrung hat, finde ich auch völlig normal. Unsere Schüler hatten vor kurzem ein Sozialpraktikum, da sie sich mal wieder nicht rechtzeitig um Stellen bemüht hatten, wurden 8 zu den Diakonischen Werkstätten geschickt. Die Hälfte von ihnen hat gezetert was das Zeug hält, nee bloß nicht mit Behinderten usw Letztlich nur Angst und Unsicherheit, weil sie nicht wussten was auf sie zukommt und siehe da, nach einer Woche haben sie geheult als sie sich verabschieden mussten. Sie erzählen immer wieder davon wie toll das war.

    LG Gytha

    “Dieses Haus sei gesegniget”

  • Danke. :redface:


    Ich denke mal, dass das Problem immer ist, dass man nicht weiß wie man sich verhalten soll. Ich bin ja immer so der Typ, der auf die Leute zu geht und sie anspricht, aber damit kam ich das ein oder andere Mal offensichtlich plump und zu aufdringlich daher. Na ja und die Jugendlichen sind erst einmal voll von Vorurteilen, die es gilt abzubauen.


    Ich hätte in meiner Schulzeit jedenfalls kein Problem damit gehabt, wenn auch behinderte Schüler das Klassenzimmer mit mir geteilt hätten. Aber wie gesagt meine Wohnregion ist so ländlich, da war es schon etwas Besonderes, wenn mal jemand mit Migrationshintergrund in die Klasse bzw. an die gesamte Schule kam.


    Mein Mann hatte letztes Jahr einen fiesen Unfall mit der Kreissäge und war wochenlang einarmig unterwegs, da merkt man erst einmal wie sehr man auf alle Glieder und Sinne angewiesen ist. Richtig bewegen tut sich noch nicht alles, aber wir arbeiten dran. Na ja und ich wäre ohne meine Brille auch aufgeschmissen, denn ohne geht nichts, weder Lesen noch Autofahren, Arbeiten oder sonst was. Mit solchen "Kleinigkeiten" geht es ja schon los, dass man eingeschränkt ist.

    &WCF_AMPERSAND"Das Buch als Betriebssystem ist noch lange nicht am Ende&WCF_AMPERSAND" (H.M. Enzensberger)


  • Hey, das war eine gute Rezi. Ich glaube auch nicht, dass jemand gemeint hat, Du hättest Dich unglücklich ausgedrückt, eher eine Weiterführung der Fragen die Du Dir gestellt hast :smile:


    Ja genau.
    Die Rezension ist doch toll!



    während ich in Deutschland immer das Gefühl habe, dass wir unsere Behinderten wegsperren.


    Ja, schon.
    Deshalb bestehen auch die Berührungsängste. Die meisten Leute kommen nicht mit offensichtlich Behinderten in Berührung, wenn denen dann mal ein solcher über den Weg läuft, fällt das schon unter "Exotik".

  • Ich habe das Buch auch mehrfach gelesen. habe selbst zwei behinderte Kinder.
    Zum "Starren": ich habe die Autorin so verstanden, dass sie sich statt des Starrens wünscht, dass ihr Kind angesprochen wird:
    Du hast ja eine schicken Rollstuhl/eine schöne Mütze - oder in der Art.
    Dass mit Worten Kontakt aufgenommen wird.
    Wenn meine Kinder angestarrt werden, ist das für sie furchtbar. Und es ist ein anderes Schauen, als wenn an ein Kind anschaut, das auf dem Bürgersteig tanzt oder so.
    Annette