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Letzte Woche überkam mich - selten genug passiert das - der Wunsch, mal wieder einen großen amerikanischen Roman zu lesen, etwa in der Größenordnung von Franzen oder Eugenides. Ihr wisst schon. Meine Wahl fiel recht spontan auf Yanagiharas 'Ein wenig Leben'. In der Süddeutschen Zeitung hatte Andreas Platthaus das Buch über die Maßen gepriesen, auch viele andere Leser schienen von dem Buch nicht nur beeindruckt, sondern regelrecht erschüttert zu sein. Klang also wenigstens nicht langweilig.
Erzählt wird die Geschichte einer Gruppe von Freunden, die sich auf dem College kennenlernen, zeitweise eine Wohnung teilen, sich aber später im Leben auch nicht aus den Augen verlieren. Die Entwicklung der einzelnen Charaktere wird über mehrere Jahrzehnte verfolgt. Im Mittelpunkt steht aber eindeutig Jude St. Francis, ein etwas finsterer, hochintelligenter, aber auch geheimnisvoller Mann, dessen Leben durch eine Reihe von gesundheitlichen Einschränkungen geprägt ist. Woher die kommen, erfährt der Leser dann im Laufe des Buches.
Ich bin mit einigem Elan an die Lektüre gegangen, aber nach einigen Tagen und mehr als 200 Seiten erlahmte das dann doch sehr. Ich fühlte mich wie in einer amerikanischen Fernsehserie aus dem high brow-Genre gefangen, so a la 'Brothers and Sisters' oder so. Das Buch ist flüssig geschrieben, die Dialoge nicht platt, die Beschreibungen vergleichsweise elegant, aber es bewegt sich doch alles immer im gleichen Stil und im gleichen Genre vorwärts. Das ist auf 950 Seiten einfach ungeheuer ermüdend, zumal die Autorin wirklich alles ausdeutet, jede Szene nicht nur beschreibt, sondern jede Handlung, jedes Gefühl ausdeutend kommentiert. Das verleiht ihrer Erzählung zwar eine gewisse emotionale Tiefe, wirkt aber zugleich hemmend und auf Dauer eher zäh.
Nach einigen hundert Seiten hatte ich den Eindruck, dass hier vor allem Emotionen und ein paar eher schlichte Lebensweisheiten transportiert werden. Erzähltechnisch bleibt die Autorin extrem konventionell, einzig einige Perspektivenwechsel lockern den Textfluss etwas auf, was aber nicht durch unterschiedliche Stilebenen gekennzeichnet ist.
Achtung: Spoiler
Emotion gibt es reichlich in diesem Buch, denn die Geschichte von Jude enthüllt sich dem Leser nach und nach. Es ist eine Geschichte eines Jungen, der als Findelkind in einem Kloster aufwächst, dort von den Mönchen missbraucht wird, später als Stricher ebenfalls wieder nur Gewalt und Missbrauch erlebt, fast umgebracht wird, sich wieder berappelt, aber auch später immer wieder in Beziehungen zu Menschen gerät, die ihn emotional und körperlich misshandeln. Zur Gewalt der anderen kommt die Autoaggression - Jude ritzt sich. Die Autorin erzählt diese Episoden detailreich bis an die Grenzen des erträglichen gehend. Das wäre für ein bis zwei solcher Episoden sicher machbar, hier aber türmt es sich, über endlose Passagen wird das Leiden des Jungen und späteren Mannes beschrieben, was einen Rezensenten der engl. Ausgabe zu der Einschätzung verleitete, es handele sich hier um 'tragedy porn', also einen nahezu pornografischen Blick auf die Misshandlungen. Sehr treffend.
Hinzu kommt: das Buch strotzt von Klischees. Natürlich sind es katholische Priester, die den Jungen zuerst missbrauchen. Natürlich ist Jude aber trotz allem über die Maßen intelligent und erfolgreich. Er kennt alles, weiß alles, ist hochmusikalisch, singt wie ein Opernstar, spielt Klavier, kann Latein und moderne Fremdsprachen, ist ein begnadeter Mathematiker. Und zugleich ist er eben auch über die Maßen traurig. Auch seine Freunde sind über die Maßen reich, intelligent, erfolgreich und über die Maßen verständnisvoll oder gutaussehend - vor allem Willem, der nach einer längeren Zeit überhaupt erst merkt, dass er eigentlich in Jude verliebt ist und sich natürlich als über die Maßen verständnisvoller Partner erweist.
Das war dann doch alles etwas zu viel.
Fazit: zu emotional überfrachtet, wenig ökonomisch erzählt, sehr konventionell, schlichte Lebensweisheiten in eine klischeebeladene Story gepackt.
Not my cup of tea, sorry.
P. S.: Eine interessante Diskussion wäre noch zum Personal zu führen. Im Buch kommen Frauen fast nicht vor, sondern nur Männer. Und die fallen weitgehend in zwei Gruppen: die bösen männlichen Männer, die vor allem durch Gewalt auffallen und Sexualität vor allem als Machtinstrument missbrauchen. Und dann die guten Männer, die eher metrosexuell geprägte Gruppe, die sehr feminine Züge haben, schwul sind oder sexuell untentschieden. Zu den gehören alle vier Männer des engeren Freundeskreises um Jude. Ein Teil des Buches trägt daher auch den Titel 'Postmann', was im Sinn von 'Post-Mann' zu verstehen ist, ein Mann, der die klassische Männlichkeit hinter sich gelassen hat. Das ist schon eine insgesamt etwas schräge Konzeption.