Alles aus heutiger Sicht nicht falsch, aber wer sich die Literatur um 1800 mal anschaut, der wird feststellen, dass der Werther damals einschlug wie eine Bombe. Die verarbeiteten Themen - ins Extrem getriebene Empfindsamkeit, Darstellung eines Suizid aus der Perspektive des Helden - und zwar ohne moralische Verurteilung, libidinöse Dreiecksbeziehung: das verursachte eine enorme Bugwelle. Viele Autoren, darunter Jean Paul und Ludwig Tieck, führten den Werther in ihren eigenen Schriften ausdrücklich an. Es entstand einerseits ein Werther-Kult mit drolligen Auswüchsen und allem, was eben zu kultischen Verehrungen dazugehört, ein Dresscode, eine Andenken- und Devotionalienwirtschaft... andererseits gab es hysterische Abwehrreaktionen vor allem aus konservativ-klerikalen Kreisen.
Es brauchte wohl einen moralisch skrupelfreien Autor wie J.W. Goethe, um so einen Befreiungsschlag loszulassen. Das, genau das, ist die Bedeutung der Geschichte: es war ein Dammbruch, der damals ganz neue Themen und Sichtweisen ermöglichte. Der Werther ist eine der wichtigsten Schriften der deutschen Literaturgeschichte. Liest man ihn ohne diese historische Dimension, kommt natürlich ein ungerechtes Urteil dabei heraus.
Einen Einwand, wenn er auch nicht auf meinem Mist gewachsen ist, muss ich aber gelten lassen: als Briefroman ist er in der falschen Form erzählt, denn es gibt ja immer nur einen Schreiber, Werther selbst; es fehlt der ausgeschriebene Gedankenaustausch. Der Werther ist ein in das falsche Gewand geschlüpfter Tagebuchroman!