Kent Haruf - Plainsong / Lied der Weite

Es gibt 5 Antworten in diesem Thema, welches 1.402 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von Kirsten.

  • „Das Mädchen sah müde und traurig aus, sie hatte die Decke um die Schultern gewickelt wie jemand, der ein Zugunglück oder eine Überschwemmung überlebt hat, trauriges Überbleibsel einer Katastrophe, die ihren Schaden angerichtet hat und weitergezogen ist.“ (S. 37)


    Kent Harufs „Lied der Weite“ verspricht eine unterhaltsame Geschichte vor dem Hintergrund einer amerikanischen Kleinstadt, in der das Schicksal eines Mädchens das Leben anderer Stadtbewohner auf den Kopf stellt.


    „Ihre Augen hatten immer noch eine wunde Direktheit, als wären Trauer und Zorn nur knapp unter die Oberfläche gesunken.“ (S. 104)


    Auf den ersten Seiten dieses Romans konnten mich Sprache, Figuren und vor allem die Stimmung des Textes ziemlich nachhaltig fesseln, deswegen wollte ich es auch unbedingt lesen. Die vorgestellten Personenkonstellationen und Hintergründe versprachen einen spannenden Verlauf mit vielen potentiellen Reibungspunkten, auf den ich mich echt gefreut habe; rückblickend hätte ich zumindest die ein oder andere Anstrengung voraussehen können. Insbesondere die fehlenden Anführungszeichen in der wörtlichen Rede machten mir das Lesen schwerer als gedacht, und auch die abgehackten Sätze, die zu Beginn reizvoll erschienen, begannen irgendwann zu nerven: „Seit acht Tagen war die Schule aus. Aber das Freibad war noch nicht geöffnet. Die Baseball-Sommersaison hatte noch nicht angefangen. Und auch auf dem Rummelplatz würde es erst in der ersten Augustwoche losgehen.“ (S. 253)


    Zu all dem kam, dass mir nicht klar war, worauf der Autor hinauswollte. Das kann natürlich genauso gut auch an mir gelegen haben, sodass diese Feststellung allein mich nicht dazu bringen würde, vom Lesen dieses Romans abzuraten, doch eine Erwähnung ist es mir wohl wert. Auch bei dem Satz „In der Spüle stand kein Geschirr, der Tisch war geschrubbt, auf den Stühlen war nichts mehr von den Lappen und Maschinenteilen zu sehen, und der Boden wirkte so sauber gefegt, als hätte eine Immigrantin den Besen geschwungen.“ (S. 114) musste ich doch sehr schlucken und gleichzeitig überlegen, was damit gemeint sein könnte.


    Zuletzt hatte ich den Eindruck, dass es Haruf zu viel Aufwand war, den Brüdern unter seinen Figuren eigenständige Charaktere zu verleihen: Besonders die beiden Jungen hatten kaum eine eigene Persönlichkeit und Absätze wie „Oben im Bad kämmten sie sich mit nassem Kamm, zogen ihr Haar zu Wellen hoch und lockerten es mit den hohlen Händen auf, bis es über der Stirn steil nach oben stand. Wasser tröpfelte ihnen auf die Wangen und hinter die Ohren. Sie trockneten sich ab gingen auf den Flur hinaus und blieben zögernd vor der Tür stehen[…]“ (S. 19) sorgten in meinem Kopf für zugegebener Maßen amüsante Episoden von sich synchron bewegenden Kindern.


    Insgesamt fehlt mir leider das, was im Klappentext versprochen wird: Dass das Schicksal des Mädchens, dass die gute Tat der Brüder, die sie aufnehmen, „das Leben von sieben Menschen in der Kleinstadt Holt in Colorado umkrempelt und verwandelt“ (Zitat Klappentext). Ja, wir können in sehr gemächlichem Tempo einer gewissen Entwicklung folgen, wir kommen den Bewohnern dieser Kleinstadt auch sehr nahe, doch leider hatte ich nie das Gefühl, dass wirklich etwas passierte.


    2ratten


    Kaufen* bei

    Amazon
    Bücher.de
    Buch24.de

    * Werbe/Affiliate-Links

  • Kaufen* bei

    Amazon
    * Werbe/Affiliate-Link

    Kaufen* bei

    Amazon
    * Werbe/Affiliate-Link


    Inhalt

    Die siebzehnjährige Victoria wird von ihrer Mutter vor die Tür gesetzt. Unterschlupf findet sie ausgerechnet bei ausgerechnet bei den Brüdern McPheron, zwei alten Junggesellen. Diese Idee ihrer Lehrerin bringt das Leben von sieben Menschen in der amerikanischen Kleinstadt Holt gründlich durcheinander.


    Meine Meinung

    Es ist eine Geschichte, wie sie schon unzählige Mal passiert ist: ein Mädchen ist schwanger und wird von ihrer Mutter aus dem Haus geworfen. Da ist es egal, dass die Mutter selbst eine eher zweifelhafte Vergangenheit und ihre Tochter bis auf die Schwangerschaft eine wenn nicht glänzende, so doch leuchtende Zukunft vor sich hat. Victoria muss das Elternhaus verlassen. Hilfe findet sie bei ihrer Lehrerin, die eine verrückt klingende Idee hat. Ein junges Mädchen soll zu zwei alten Männern ziehen, die außerhalb der Stadt auf einer Farm leben? Aber der Plan geht auf und die drei nähern sich einander an. Das klingt kitschig, ist es aber nicht. Denn der Autor beschreibt diese Annäherung nicht nur in einer wunderbaren Sprache, sondern auch sehr realistisch. Anfangs reden Victoria und die McPherons nicht miteinander. Das Mädchen ist so eingeschüchtert, dass sie sich nicht traut zu sagen, wenn sie ein Problem hat. Die beiden Alten dagegen denken, dass alles in Ordnung ist solange sie nichts sagt. Ich fand diese Geschichte rührend und hätte die drei am liebsten an die Hand genommen, um ihnen zu helfen miteinander klar zu kommen.


    Aber Victorias Geschichte ist nicht die einzige, die Kent Haruf erzählt. Es gibt noch die Brüder Ike und Bobby. Ihre Mutter hat die Familie verlassen. Wieder scheint die Sache klar: sie kommt mit ihrer Rolle als Ehefrau und Mutter nicht zurecht. Das stimmt auch, aber auch hier gibt es ein großes Aber. Denn wieder erzählt der Autor mehr, als man sieht und zeigt die Geschichte aus einem anderen Blickwinkel.


    Das war für mich das Besondere an diesem Buch. Es ist oft so, dass die Dinge nicht so sind, wie sie scheinen. Aber hier macht sich der Autor die Mühe zu erklären, warum sie anders sind. Jede einzelne Person wird aus den verschiedensten Blickwinkeln betrachtet, aber nicht bewertet. Das überlässt Kent Haruf seinem Leser. Ein wunderbares Buch.

    5ratten


    Liebe Grüße

    Kirsten

    Into the water I go to lose my mind and find my soul.

  • Das war für mich das Besondere an diesem Buch. Es ist oft so, dass die Dinge nicht so sind, wie sie scheinen. Aber hier macht sich der Autor die Mühe zu erklären, warum sie anders sind. Jede einzelne Person wird aus den verschiedensten Blickwinkeln betrachtet, aber nicht bewertet. Das überlässt Kent Haruf seinem Leser.

    Das klingt wirklich sehr gut.

    Und ich habe gerade geschaut. Meine Bücherei hat das Buch, als wandert es mal auf meine Leseliste! :)

  • illy

    Hat den Titel des Themas von „Kent Haruf - Plainsong/Lied der Weite“ zu „Kent Haruf - Plainsong / Lied der Weite“ geändert.
  • Ein Lehrer mit zwei Söhnen, alleingelassen von ihrer Mutter.

    Eine junge Frau, ein Mädchen eigentlich, noch Schülerin, schwanger.

    Zwei alte Männer, Brüder, Farmer.

    Das sind die Hauptfiguren dieses Romans, die man über mehrere Monate begleitet, in deren Leben man eintaucht.


    Es passieren hauptsächlich Alltäglichkeiten, keine großen Erlebnisse warten auf die Figuren, sondern Dinge, die überall, immer wieder passieren. In diesem Ort gibt es allerdings ein paar Menschen, die es kümmert, was passiert und die versuchen, das richtige zu tun. Selbst gewalttätige Situationen erzeugen so keine wirkliche Spannung, was mich aber nicht störte.


    Man könnte dem Roman zudem vorwerfen, dass es ihm an einem roten Faden fehlt, tatsächlich sind es eher einzelne, aneinandergereihte Episoden, aber zusammen ergeben sie ein wunderbares Gesamtbild. Dazu passt auch, dass das Ende nicht wie ein Ende wirkt, das einzig besondere an der Situation ist, dass tatsächlich alle Protagonisten einmal versammelt an einem Fleck sind.


    Ich verstehe Kritikpunkte zum Tempo der Geschichte, aber mich störte diese Gemächlichkeit nicht, ich mochte gerade das Friedliche und Ruhige des Buchs.


    4ratten

  • Mir hat Kent Harufs Roman auch sehr gut gefallen - ich schließe mich in den meisten Punkten einfach mal Kirstens Rezension oben an.

    Eine schwierige Geschichte hinter alltäglichen Geschehnissen zu verstecken scheint Harufs Spezialität zu sein - in "Unsere Seelen bei Nacht" fand ich es sogar noch etwas extremer. Und immer strahlen einige besondere Charaktere hell hinter dem "Gewöhnlichen" hervor.

    Ganz besonders (zwischen Lachen und Rührung) fand ich die Bemühungen der beiden alten Brüder, auf ihre alten Tage mit Hilfe der intervenierenden Lehrerin die Kunst der Konversation zu erlernen. Tolle Stelle im Buch. <3


    4ratten +

  • Eine schwierige Geschichte hinter alltäglichen Geschehnissen zu verstecken scheint Harufs Spezialität zu sein ...

    Da stimme ich dir zu. Auf den ersten Blick wirkte die Geschichte wie etwas, das man schon oft gelesen hat. Aber wenn man genauer hingesehen hat, hat man viele kleine Geschichten entdeckt, die alles andere als banal waren.

    Into the water I go to lose my mind and find my soul.