Umberto Eco - Der Friedhof in Prag

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    OT: Il Cimiterieo Di Praga
    OA: 2011
    519 Seiten
    ISBN: 978-3446237360


    Inhalt:
    Paris, 1897. Der Italiener Simonini erwacht in einer Pariser Wohnung ohne Erinnerung an die vergangenen Tage. Er beginnt Tagebuch zu schreiben, um sich von seiner Kindheit über die Erlebnisse während des Risorgimento und der Pariser Kommune an die Gegenwart heranzutasten. Doch während er schläft, kommentiert jemand seine Einträge und entlarvt Simonini nicht nur als durchtriebenen Fälscher und Agenten, sondern auch als höchst gefährlichen Antisemiten und Mitverfasser der Protokolle der Weisen von Zion. (Quelle: Amazon)



    Eigene Meinung:
    Ich habe mir das Buch aufgrund des Klappentextes zugelegt, der eine spannende, mystische und ereignisreiche Geschichte versprach. So zumindest habe ich es verstanden, aber was ich letztendlich las, war ein völlig anderes Genre.


    Dieses Buch ist definitiv keine leichte Kost. Eco erzählt von Antisemitismus, Verschwörungen und sehr viel politischer Geschichte des späten 19ten Jahrhunderts. Sein Protagonist wird hier zum Werkzeug. Übrigens einer der wenigen fiktiven Gestalten dieses Buches, welches zum überwiegenden Teil von realen Personen existierte.


    Durch ihn bekommt der Antisemitismus und dessen Propagandamaschinerie ein Gesicht und dieses Gesicht ist niemals auch nur annähernd ein angenehmes. Genau dies macht dieses Buch so schwer zu lesen. Simonini ist ein Egoist, ein emotionsloser unehrlicher Zeitgenosse und ein Antisemit aus Überzeugung. Er lebt, weil er hassen kann. Es hat mich sehr oft Überwindung gekostet dieses Buch nach einer Weile wieder zur Hand zu nehmen und weiterzulesen, weil mich der Protagonist einfach nur noch anekelte. Hatte ich dann allerdings angefangen, so konnte ich es kaum aus der Hand legen. Man ist irgendwann einfach nur noch übersättigt an Hasstiraden gegen Juden, Jesuiten und Freimaurern. Ich musste mich immer wieder daran erinnern, dass dieser Mensch Simonini und seine Überzeugung in keinster Weise mit der von Eco konform ist, denn sonst hätte dieser dieses Buch niemals geschrieben, aber diese Person per se ist so real, dass es einen schaudert und das ist gut so. Solch ein Mensch darf gar nicht positiv dargestellt werden. Diese emotionslose Haltung des Protagonisten vermittelt sehr drastisch, warum ein Mensch eine ganzes Volk so sehr hassen kann, dass er sich dessen komplette Vernichtung wünscht und dabei im wahrsten Sinne des Wortes über Leichen geht.


    Eco hat mit diesem Werk die Fälscher entlarvt, die es immer wieder und auch och heute gibt und das nur allzu regelmäßig vor Augen der gesamten Öffentlichkeit. Sie fälschen, weil es ihnen Nutzen bringt und anderen schadet und immer wieder wird es Menschen geben, welche kritiklos alles glauben was man ihnen vorsetzt und, ohne sich eine fundierte eigenen Meinung zu bilden, darauf anspringen. Hier liegt ebenso das Verhalten der Deutschen zu Zeiten der Nazis zu Grunde. Es wurde Propaganda betrieben mit solchen offensichtlichen und skurrilen Ammenmärchen, aber die meisten wollten und haben sie geglaubt ohne Skrupel, ohne Rücksicht auf Verluste und das allerschlimmste ohne Reue.


    Eco hat mit diesem Buch sehr genau und erschreckend deutlich das Gesicht des Rassismus skizziert und seine Entwicklung in einer Gesellschaft.
    Die Story an sich beruht auf Fakten und wahren Begebenheiten und das macht das Buch nicht nur authentisch, sondern ist auch eine erschreckende Warnung sehr vorsichtig mit Verdächtigungen, Vorurteilen und offiziellen Skripten und Recherchen umzugehen.


    Ein ausgesprochen gutes Buch, welches sehr starke Emotionen hervorruft und sehr erschreckend in Erinnerung bleiben wird.


    5ratten


    Tina

  • ich hatte in der Zeitung einen Bericht gelesen und der Autor war gar nicht so begeistert von dem neuesten Eco-Werk. Er fand es sogar ziemlich langweilig.


    Und nun hier deine ganz andere Meinung dazu. :smile:

    Liebe Grüße JaneEyre

    Bücher haben Ehrgefühl. Wenn man sie verleiht, kommen sie nicht zurück.

    Theodor Fontane

  • Am 20. Dezember wurde das Buch auch im Literaturclub des Schweizer Fernsehens diskutiert.
    Das verlinkte Video zeigt zunächst ein Interview mit Umberto Eco und dann die Meinung der Kritiker (für die Heiklen unter uns: nicht ganz spoilerfrei), die dem Werk insgesamt ein wenig zwiespältig gegenüber zu stehen scheinen.
    Das Video dauert 12 Minuten - und ich hoffe, dass es sich auch ausserhalb der Schweiz aufrufen lässt (kann sein, dass es aufgrund von Copyright-Bestimmungen nicht geht, dann wäre ich froh um einen Hinweis für nächstes Mal).


    Der Friedhof in Prag im Literaturclub


    Bei mir subbt das Buch noch, ich werde es im Rahmen des SLW lesen und dann hier meine eigene Meinung posten...

    Wer anderen folgt, wird nie zuerst ankommen.

  • In den Kritiken der Zeitungen wird das Buch irgendwie allgemein nicht so gut aufgenommen hab ich den Eindruck. Inhaltlich spricht mich persönlich der Roman ja an. Wenn ich mir meinen Ebookreader endlich gekauft hab (dauert noch *g*) komm ich auch mal zum Lesen, ich hab mir den Roman bei einem Angebot von Kobo umsonst heruntergeladen. Wenn es also doch schlecht ist hab ich wenigstens kein Geld dafür ausgegeben :breitgrins: Bisher kenn ich nur "Der Name der Rose" von ihm. Also mal abwarten.


    @Alfa
    Bei mir hat der Link funktioniert. Ein sehr interessantes Gespräch das einem schonmal einen ersten Eindruck vermittelt. Da wird man ja schon eher skeptisch (und ich bin ja schon eher jemand der sich möglichst ohne Vormeinung an ein Buch wagt, weshalb ich meist solche Sendungen meide).

  • Hallo,


    ich habe das Buch zu Weihnachten bekommen, weil mich der Inhalt angesprochen hat. Nach Tinas toller Rezension denke ich,dass ich es in nächster Zeit lesen werde. Ich bin mal gespannt, wie ich mit Ecos Schreibstil klar kommen werde. Bisher habe ich von ihm nur "Einführung in das wissenschaftliche Arbeiten" oder wie das heißt gelesen, was aber eher wissenschaftlicher ist.
    Ich finde ja, dass die Hauptperson sehr interessant klingt.

    Was wäre mein Leben ohne Bücher? Einfach nur leer. <br /><br />Zu viele Bücher, die ich lesen möchte und zu wenig Zeit, sie alle zu lesen.

  • Hallo Ihr Lieben,


    nachdem mich dieses Buch doch einige Zeit gekostet hat, kommt hier auch meine Meinung:


    In dem Buch "Der Friedhof der Prag" versucht Umberto Eco darzustellen, wie die Protokolle der Weisen von Zion entstanden sein könnten und welche Rahmenbedingungen und politischen Überlegungen die Entstehung der Protokolle begünstigt haben könnten. Im Mittelpunkt steht dabei Simonini: Ein unsympathier, alles verachtender und hassender Fälscher, der im Namen der italienischen, schließlich der französischen Regierung falsche Dokumente erstellt und somit nachhaltig das politische Geschehen beeinflusst. Getrieben wird Simonini dabei von einem unbändigen Hass auf die Juden und sein Ziel ist es, diese Rasse irgendwie vernichten zu können.


    Alleine schon wenn ich Simonini beschreibe, könnte ich schon wieder aus der Haut fahren. So einen unsympathischen und unmöglichen Hauptcharakter hatte ich, so weit ich mich erinnern kann, noch in keinem anderen Buch und gerade er hat mir das Lesen sehr schwer gemacht. Da das Buch als Tagebuchaufzeichnungen von Simonini aufgebaut ist, kommt man als Leser nicht daran vorbei, abwertende und hasserfüllte Aussagen von Simonini zu lesen, die mich oft sehr aufgeregt haben.


    Umberto Eco hat sehr tief in den historischen Fakten gewühlt und wirklich ein sehr detailgetreues und gut recherchiertes Buch abgeliefert. Leider hat dieses Buch auch eher die Form von geschichtlichen Aufzählungen und erinnert eher an ein Geschichtswerk, als an einen Roman. Die Tagebucheinträge zeichnen sich durch das Auflisten von historischen Fakten und Daten aus und oft habe ich den Faden verloren und musste mich erst wieder mühsam in der Zeit und den Begebenheiten zurecht finden.


    Dass Umberto Eco mit dem Buch zeigen möchte, wie es zu den Protokollen kommen konnte und wie es möglich sein kann, dass ein ganzes Volk so gehasst wird, finde ich von der Idee sehr gut. Jedoch ist für mich die Umsetzung nicht sehr glücklich gelungen. Ich, als Leser, musste mich oft zwingen das Buch weiterzulesen und war ab der Hälfte sehr versucht nur noch quer zu lesen, um endlich fertig zu werden. Gerade diese unmögliche Hauptfigur und das ewige Auflisten von Daten und Fakten waren für mich sehr ermüdend und zu keiner Zeit konnte mich das Buch wirklich fesseln.


    Im Nachgang habe ich noch die Hintergründe zu den Protokollen der Weisen von Zion und auch der Dreyfuss-Affäre nachgelesen und bin wirklich begeistert, wie originalgetreu sich Umberto Eco an die geschichtlichen Details gehalten hat. Ich finde es auch sehr gut, dass Eco mit dem Buch zum Nachdenken anregen und zeigen möchte, wie die Bevölkerung teilweise auch einfach für dumm verkauft wird. Trotz allem bin ich der Meinung, dass eine andere Hauptfigur und ein anderes Vorgehen dem Buch sehr gut getan hätten und auch die Aufmerksamkeit und Brisanz des Themas hätten zeigen können.


    Mit der Bewertung tue ich mich sehr schwer, da ich das Thema und gerade die historischen Details sehr gut recherchiert finde, mich jedoch die Umsetzung gar nicht überzeugt hat. Alles in allem gibt es dafür von mir 2ratten und ich bin der Meinung, dass der Autor mehr Potenzial hat. Gerade im Vergleich mit "Der Name der Rose" bin ich von diesem Buch einfach nur enttäuscht. Daher sind die zwei Ratten noch sehr großzügig vergeben.


    Liebe Grüße
    Tammy :winken:

    &WCF_AMPERSAND"Jeder der sich die Fähigkeit erhält, Schönheit zu erkennen, wird nie alt werden.&WCF_AMPERSAND" (Franz Kafka)

  • Umberto Eco: Der Friedhof in Prag


    Inhalt (Text auf der Buchrückseite)


    Ein Abt, der zweimal stirbt, ein paar unbekannte Tote im Pariser Abwasserkanal, geheime Militärpapiere und angebliche Verräter: das Paris der Belle Époque ist eine brodelnde Stadt, in der Geheimbünde und Verschwörer, Freimaurer und Antisemiten, Spione und Geheimpolizisten ihr dunkles Spiel treiben. Und alle haben sie etwas zu tun mit den Protokollen der Weisen von Zion, mit jenem gefälschten "Dokument" für die "jüdische Weltverschwörung", das immer weitere Kreise zieht und fatale Folgen haben wird.


    Umberto Eco, der Meister des historischen Romans, erzählt, wie nur er erzählen kann, spannend, mitreißend und mit einer unerschöpflichen Kenntnis von einer Vergangenheit, in der schon unsere Gegenwart verborgen liegt.

    Meine Meinung:


    Wie in der Leserunde schon deutlich wurde, hat das Buch mich nicht überzeugen können, sondern im Gegenteil enttäuscht. Bereits das allererste Kapitel, in dem Simoninis Wohnung beschrieben wird, hätte mir eine Warnung sein sollen.


    Gemeinsam mit Simonini, der unsympathischen Hauptfigur, bewegt der Leser sich quer durch die italienische und französische Geschichte der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Daß Simonini so unsympathisch geschildert wird, ging zwar auch mir auf die Nerven, ist aber nicht mein Hauptkritikpunkt am Buch. Mit der Zeit gelang es mir recht gut, eine Distanz zu ihm aufzubauen.


    Simonini ist als Spion und Urkundenfälscher überall mit dabei: bei Garibaldis militärischen Aktionen, bei der Pariser Kommune etc. Gerade in italienischer Geschichte bin ich nicht besonders sattelfest und mußte über einiges nachlesen. Eco stopft seinen Roman voll mit einer Fülle von historischen Details, Begebenheiten und Personen, die es zum größten Teil (soweit ich einschätzen kann) wirklich gegeben hat. Klar wird dabei, wie stark Geschichte davon abhängt, aus welchem Blickwinkel sie gesehen und wie sie interpretiert wird sowie davon, welche Fakten an die Öffentlichkeit gebracht, und welche verschwiegen werden.


    Eng verknüpft mit diesem Thema ist die Manipulierbarkeit der Massen: Fehlinformationen (wie die Lügen und Legenden über die Juden) müssen nur oft genug wiederholt und in Büchern und anderen Publikationen verbreitet werden, dann werden sie irgendwann für wahr gehalten - insbesondere dann, wenn eigene Vorurteile bestätigt werden und man darin eine Projektionsfläche für eigene Unzufriedenheit und Neidgefühle findet. Auf diese Weise entstanden die Protokolle der Weisen von Zion.
    Ein pikantes Detail im Buch war, daß die Fälscher hier ihre eigenen Lügen schließlich sogar selbst geglaubt haben.


    Die historischen Exkurse habe ich an einigen Stellen mit Interesse gelesen, ich habe mich amüsiert und unterhalten gefühlt. Eco kann sehr humorvoll schreiben. Im Großen und Ganzen ertrinkt man als Leser jedoch in der Fülle der Fakten und Details, die Eco hier ohne jeden inneren Zusammenhang einfach aufzählt. Ich kann mich noch gut erinnern, wie begeistert ich von Das Foucaultsche Pendel war. Auch dort gab es eine Fülle von Details, Verschwörungstheorien etc. Doch dort ergab das alles im Lauf der Story einen Zusammenhang, einen Sinn in Bezug auf das Thema des Buches, den zu entdecken Spaß gemacht hat. Diesen roten Faden zu erzeugen, der den Leser durchs Buch führt, ist Eco beim Friedhof in Prag leider nicht gelungen. Oft fühlte ich mich heillos verloren und konnte mich nicht konzentrieren, die verwirrende Vielfalt der Details nicht aufnehmen und konnte nur mit Mühe weiterlesen. Vermutlich bin ich für dieses Buch nicht intellektuell und geistreich genug - dazu stehe ich. Ich habe das Gefühl, Eco wollte alles, was er weiß (besonders über Freimaurerei) auf Biegen und Brechen in diesen Roman pressen. Aber wenn ich detaillierte Informationen über bestimmte historische Ereignisse wissen will, lese ich lieber ein Sachbuch als einen Roman.


    Schade, daß Eco ein so wichtiges Thema hier verschenkt hat. Indoktrination und die Manipulierbarkeit der öffentlichen Meinung ist ja auch heute noch ein brisantes Thema, ebenso wie die Frage, welche Informationen wahrhaftig und objektiv sind und welche tendenziös oder demagogisch und wie man beides auseinanderhält und beurteilt. Und weil Eco das hier nicht gut gelungen ist, bekommt das Buch von mir leider nur
    2ratten

    Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden (R. Luxemburg)

    Was A über B sagt, sagt mehr über A aus als über B.

    Einmal editiert, zuletzt von kaluma ()

  • Dieses Buch habe ich von meiner SLW-Liste am meisten gefürchtet und es deshalb jetzt schon gelesen. Ich habe mich dabei besser unterhalten gefühlt und amüsiert als ich erwartet hätte. Trotzdem schliesse ich mich insgesamt den eher lauwarmen Wertungen kalumas und Tammys an. «Der Name der Rose» bleibt meiner Meinung immer noch Ecos unerreichtes belletristisches Meisterwerk (seine Sach- und Fachbücher habe ich nicht gelesen).


    Inhalt:
    Simon Simonini ist Urkunden- und Testamentsfälscher im Paris des späten 19. Jahrhunderts. Da er etwas von seinem Geschäft versteht, bekommt er interessante Aufträge von Regierungen und Geheimdiensten. Und weil Simonini selber so unmoralisch ist wie das Geschäft, das er betreibt, ist er sich auch nicht zu schade, für zwei Seiten gleichzeitig zu arbeiten und auch mal die eine gegen die andere auszuspielen. Komplotte sind seine Welt und für Geld stellt er Dokumente her, die einzelne Personen oder ganze Volksgruppen übel dastehen lassen. Das fällt ihm nicht schwer, da er so ziemlich alles und jeden hasst – seien es Frauen, Juden, Russen oder Deutsche. Entsprechend hat er keine Freunde und kaum soziale Kontakte, die über das rein Geschäftliche hinausgehen. In einem Protokoll, das er Tagebuch nennt, hält Simonini fest, was er in seinem Leben so getrieben hat. Und der Kerl hat so einiges auf dem Kerbholz.


    Meine Meinung:
    Dieser Roman von Umberto Eco schien mir lesbarer als etwa «Das Foucaultsche Pendel», aber Kopfarbeit ist auch hier gefragt. Das Buch wimmelt nur so von Protagonisten, die bis auf Simonini wohl alle existiert haben. Ich hatte irgendwann den Überblick darüber verloren, wer jetzt genau wer ist und mit wem in Verbindung steht. Dank des umfangreichen Anhangs, in dem die historischen Persönlichkeiten beschrieben werden, könnte man sich den Überblick zwar wieder verschaffen, aber so wichtig wars mir dann doch nicht. Wie an anderer Stelle schon mehrfach vermerkt, muss ein Buch für mich auch ohne Sekundärliteratur funktionieren (und als solche würde ich den Anhang bezeichnen). Dieses Kriterium wird hier erfüllt, der Roman funktioniert als eine Art Räuberpistole, in der ein nicht reuiger Krimineller auf die Taten seines Lebens zurück blickt. Natürlich ist der reale Hintergrund der Geschichte tragisch – Simonini hat wesentlichen Anteil an der Erstellung der «Protokolle der Weisen von Zion», die wiederum Adolf Hitler ein halbes Jahrhundert später in seinen Wahnvorstellungen bestätigten –, trotzdem habe ich mich streckenweise darüber amüsiert, wie geschickt Simonini Leute manipuliert und missbraucht, um seine eigenen Ziele verfolgen zu können.


    Erschreckender als Simonini und die Folgen seiner Protokolle fand ich die Passagen, in denen erklärt wird, was es braucht, um durchschnittliche Leute zu Fremdenhass zu bewegen. Da werden Methoden beschrieben, die auch heute noch funktionieren und von Rechtspopulisten entsprechend gerne verwendet werden. Wie Eco selber im Nachwort schreibt, ist Simonini immer noch unter uns.


    Das zeigt folgender Abschnitt, in dem ein russischer Geheimdienstler Simonini erklärt, wieso dieser ein Dokument erstellen soll, dass das russische Volk gegen die Juden aufhetzt:


    Zitat

    «Ich bin daran interessiert, die Moral des russischen Volkes aufrechtzuerhalten, und ich wünsche nicht (...) dass dieses Volk seine Unzufriedenheiten gegen den Zaren kehrt. Also braucht es einen Feind. Nun wäre es sinnlos, den Feind unter, was weiß ich, den Mongolen oder Tataren zu suchen, wie es die Autokraten früherer Zeiten getan haben. Damit der Feind erkennbar und furchterregend ist, muss er im Hause sein oder jedenfalls an der Schwelle des Hauses. Deswegen die Juden. (...)
    Jemand hat gesagt, der Patriotismus sei die letzte Zuflucht der Kanaillen – wer keine moralischen Prinzipien hat, wickelt sich gewöhnlich in eine Fahne, und die Bastarde berufen sich stets auf die Reinheit ihrer Rasse. Die nationale Identität ist die letzte Ressource der Entrechteten und Enterbten. Doch das Identitätsgefühl gründet sich auf den Hass, Hass auf den, der nicht mit einem identisch ist. Daher muss man den Hass als zivile Leidenschaft kultivieren. (...) Man braucht immer jemanden zum Hassen, um sich im eigenen Elend gerechtfertigt zu fühlen.»


    Mir fallen da ein paar aktive Politiker aus dem rechten Spektrum ein, die mit ähnlichen Wertvorstellungen operieren. Auch wenn sie das nie so eloquent ausdrücken könnten.


    Fälschungen und fingierte Dokumente führen oft zu Verschwörungstheorien und entsprechend wird auch dieses Thema aufgegriffen. Es wird in dem Buch mehrfach betont, dass die Leute nur glauben, was sie sowieso schon wissen oder zu wissen glauben. Wer also die amerikanische Regierung für fähig hält, tausende Leute zu töten, der wird auch glauben, dass das FBI für die Anschläge auf die Twin Towers in New York verantwortlich war. Das Prinzip funktioniert schon seit der Antike und entsprechend wird auch heute noch die Kommunikation gesteuert – von den wirren Verfassern von Verschwörungstheorien bis eben hin zu politischen Parteien mit wenig lauteren Absichten. Womit wir wieder bei dem Punkt wären, dass Simoninis Geist so lebendig ist wie eh und je.


    Schön, dass Eco die Geschichte aus Sicht der Brandstifter erzählt, ohne dabei zu werten. Es darf jeder Leser selber seine Schlüsse ziehen. Weniger schön ist die Konstruktion der Geschichte. Da gibt es einerseits das Protokoll Simoninis (er nennt es ein Tagebuch), dann gibt es das Tagebuch des Abbé Dalla Piccola, der sich in Simoninis Tagebuch einmischt. (Simonini fragt sich, ob er vielleicht eine gespaltene Persönlichkeit hat und mit Dalla Piccola identisch ist, da dieser offenbar Zugang zu seiner Wohnung hat, aber von Simonini dort nie angetroffen wird.) Und weil das Duo Simonini/Dalla Piccola manchmal ein wenig verwirrt scheint und entsprechend schreibt, gibt es noch den Erzähler (Grüezi, Herr Eco!), der die unlesbaren Passagen der Tagebücher inhaltlich zusammenfasst. Das wäre sicher auch einfacher und leserfreundlicher gegangen, zumal es ja sonst noch genug zu denken gibt.


    Man kann das Buch (wie alle Romane von Eco) zudem als überladen empfinden. Wenn man da jeder Andeutung und jedem Hinweis nachgehen würde, könnte man sicher die Lesezeit mehrerer Monate investieren und wäre noch nicht am Ende. Ich habe keine Ahnung, ob Eco das jeweils macht, weil er es kann und es ihm Spass macht oder ob er damit aller Welt demonstrieren will, wie gebildet er ist. Im Zweifel für den Autoren gehe ich mal von Ersterem aus, aber letztlich kann es mir egal sein, da ich nicht den Ehrgeiz habe, ihm auch nur ansatzweise in die von ihm geliebten Gefilde der Geheimbünde, Verschwörer und Drahtzieher im Hintergrund zu folgen.


    Fazit:
    Ein unterhaltsames Buch, das viel mehr sein möchte (oder ist) als nur die Lebensbeichte eines begnadeten Fälschers, aber eben auch so funktioniert.


    6 von 10 Punkten

    Wer anderen folgt, wird nie zuerst ankommen.

  • Ich denke, Ihr habt mir einen Fehlkauf vermeiden geholfen.
    Danke :smile:


    Stand nämlich auf meiner WL ganz oben, aber weil ich bisher eher verhaltene Rezis dazu gelesen hatte, wollte ich mal schauen, wohin hier die Tendenz zeigt.

    Einmal editiert, zuletzt von Büchersylli ()

  • Zitat

    Manchmal, das war auch schon in den antiken Geschichten so, ist der Unterschied zwischen einer Fee und einer Hexe bloß einer des Alters und der Anmut.


    Umberto Eco gehört zu den Autoren, bei denen ich mir eine Menge von dem jeweiligen Buch verspreche, es dann aber doch gerne vor mir her schiebe, weil ich vermute, dass die Lektüre nicht ganz einfach werden wird. Hier hat mich alleine der Titel schon angelockt.


    Endlich begonnen entpuppte sich der Einstieg tatsächlich als recht zäh, ich brauchte einen zweiten Anlauf, bis ich in der Geschichte angekommen war. Das lag sicherlich daran, dass der Erzähler zunächst einmal über jede Volksgruppe und Nationalität und die Juden ganz besonders und die Freimaurer und die was-auch-immer wettert. Dabei bedient er so ziemlich jedes Vorurteil und Klischee, bis es ein Übermaß annahm, ab dem ich ihn einfach nicht mehr ernst nehmen konnte (die Alternative wäre Abscheu vor ihm und Abbruch des Buchs gewesen) und begann meinen Spaß an dem Buch zu haben. Bei seiner Antipathie gegen alle Möglichen, sieht er sich außerhalb billigen Rassismusses etc:

    Zitat

    Jemand hat gesagt, der Patriotismus sei die letzte Zuflucht der Kanaillen – wer keine moralischen Prinzipien hat, wickelt sich gewöhnlich in eine Fahne, und die Bastarde berufen sich stets auf die Reinheit ihrer Rasse.


    Er ist Verschwörungen noch und nöcher verwickelt und dabei ein Wendehals, der jeden manipuliert und sich dabei einredet, seiner Sache zu dienen. Rundherum zeichnet Eco ein faszinierendes Bild der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, in dem seine Hauptfigur eine der wenigen erfundenen Figuren in diesem Roman ist und so als Verbindungsglied zwischen verschiedensten Skandalen, Affären und Intrigen dient. Dabei zeichnet er besonders genau die bedenkliche Entwicklung des Antisemitismus in dieser Zeit nach. In der Folge des Romans habe ich diverse Details nachgeschlagen, um zu schauen, ob die äußeren Details tatsächlich stimmen und wie wahrscheinlich die von Eco seinem Helden zugeschriebenen Handlungen womöglich wirklich sind.


    Zitat

    Wenn wir die Wahl zwischen einer schlechten Wirklichkeit und einer guten Geschichte haben, nehmen viele immer noch lieber die Geschichte.


    „Der Friedhof in Prag“ ist für mich zwar eine gute Geschichte, aber eine, die einen trotzdem mit kritischeren Augen nach der Wahrheit schauen lässt.


    4ratten


  • Bei seiner Antipathie gegen alle Möglichen, sieht er sich außerhalb billigen Rassismusses etc:


    Gerade deshalb fand ich es auch unsinnig, dass Eco in irgendeiner Rezension vorgeworfen wurde, er reduziere den europäischen Antisemitismus auf die Privatpathologie einer Einzelperson. Simoninis Weltsicht ist ganz anders gelagert, er verabscheut alle. Es wird ausserdem deutlich gesagt, dass der Protagonist hauptsächlich deshalb antisemitische Propaganda produziert, weil es dafür einen riesigen Markt gibt.


    Ich habe mir übrigens bei der Lektüre gedacht, dass es reizvoll gewesen wäre, wenn sich der süffisante Erzähler als eine weitere abgespaltene Persönlichkeit der Hauptfigur herausgestellt hätte. Aber dann hätte die psychopathologische Geschichte wohl der historischen gegenüber anders gewichtet werden müssen.

    Tell all of my friends, I don&#039;t have too many: just some rain-coated lovers&#039; puny brothers. Dallow, Spicer, Pinkie, Cubitt - rush to danger, wind up nowhere.<br />Patric Doonan - raised to wait. I&#039;m tired again, I&#039;ve tried again...<br />and now my heart is full. Now my heart is full and I just can&#039;t explain, so I won&#039;t even try to.<br />(Morrissey)

  • Ich fand das Buch ziemlich anstrengend und hätte bestimmt abgebrochen, wenn ich es nicht im Vorlesemodus konsumiert hätte.

    Das war nicht meine Kragenweite. Vermutlich mein letztes von Eco.

    Bücher sind Magie zum Mitnehmen.