Sind Klassiker langweilig?

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  • Meine "Definition" war auch nicht erschöpfend gedacht, sondern exemplarisch. Es fehlten auch Aspekte des Sprachgebrauchs beispielsweise, weshalb auch Shades of Grey sicherlich den Ansprüchen eines Klassikers alleine deshalb schon nicht genügen wird.


    Woher möchtest Du es wissen?


  • Wenn wir, ganz vorurteilslos, "Krieg und Frieden" und "Bleak House", zwei meiner Lieblingsbücher, betrachten, was ist denn so besonderes daran? Was behandeln sie an großen, moden- und zeitenüberdauernden Themen denn? "Bleak House", um nur bei einem Buch zu bleiben, beschreibt den Werdegang einer jungen Frau und den Untergang des alten Adels. Inwiefern ist dies groß oder modeübergreifend? Adel gibt es ja heutzutage prinzipiell gar nicht mehr. Eigentlich dürfte man Dickens nicht mehr lesen, denn Klassenkämpfe gibt es heutzutage, zumindest in westlichem Europa nicht mehr.


    In ENgland - wo Dickens spiel und lebte - gibt es sehr wohl noch Adel. Genau wie in sehr vielen anderen Ländern (Europas und der Welt) auch.Klassenkämpfe sind in England und Frankreich vielleicht etwas subtiler, aber keineswegs verschwunden. Und wenn man sich die aktuellen Nachrichten ansieht, kämpft die deutsche Mittelschicht derzeit aber ganz gewaltig ums Überleben.


    Zitat


    Schauen wir uns "Werther" an: ein hypersensibler Mensch begeht Selbsmord. Was ist daran so besonderes? Das Thema taucht alljährlich in hunderten Büchern vor.


    die Art der Darstellung. und die Öffentlichmachung zur Zeit der Veröffentlichung.

    Zitat


    Klassiker sind nichts anderes wie Bücher, die nicht vergessen wurden. Ob berechtigt oder nicht, hängt stets vom Einzelfall ab. Viele sind sicherlich sehr gut, kunstvoll geschrieben und mit tiefen Einsichten. Aber viele wurden ebenso vergessen im Laufe der Zeit. Wer liest zum Beispiel heutzutage noch Chateaubriand, damals einen der größten Autoren? Das gleiche wird auch mit unserer LIteratur eines Tages passieren: das meiste wird (zurecht) vergessen, ein paar bleiben übrig. Aber ob wirklich die besten?


    Hier vertraue ich einfach der Schwarmintelligenz, die nicht ausschließt, dass das eine oder andere hinten runterfällt.



    Zitat

    Das ist leider die vielerorts anzutreffende Sicht: alles moderne, vor allem das, was gut verkäuflich ist, muß Schund sein. Nur die alten zählen. Aber das stimmt nicht. Ich empfehle Dir dringend die Lesung einiger Biografien und Briefe aus der Zeit um Jahrhundertwende. Da wurde Dickens, Brontes Schwestern, Schiller, teilweise sogar Goethe, auf dieselbe Stufe gestellt, wie wir, modernen Menschen, heute Rowling und Bohlen stellen würden.


    Daß wir heute in Ehrfurcht auf die Großen schauen, hat eigentlich nur damit zu tun, daß ihre Werke Jahrhunderte, oder sogar Jahrtausende, überlebt und dadurch geadelt sind. Wer sichert uns, daß unsere Nachfahren in dreihundert Jahren nicht ebenso auf diese, heutzutage von allen Kustbefliessenen so verabscheuten, Werke schauen werden?


    Nicht alles Neue ist Schund. Gerade im Literaturbereich kann ich mit der ziemlich singulären deutschen Unterscheidung in E und U ja auch sehr gut leben, je nach Funktion hat es seine Berechtigung.


  • Woher möchtest Du es wissen?


    Bislang hat in dem Buch noch niemand einen Wert erkennen können; das lässt die Wahrscheinlichkeit, dass es auf die Liste der Alltime-classics kommt gegen null tendieren.

  • In ENgland - wo Dickens spiel und lebte - gibt es sehr wohl noch Adel. Genau wie in sehr vielen anderen Ländern (Europas und der Welt) auch.Klassenkämpfe sind in England und Frankreich vielleicht etwas subtiler, aber keineswegs verschwunden. Und wenn man sich die aktuellen Nachrichten ansieht, kämpft die deutsche Mittelschicht derzeit aber ganz gewaltig ums Überleben.


    In England. Wieso wird Dickens aber in Deutschland als Klassiker angesehen? Der Adel hierzulande ist völig vernachlässigbar. Der Kampf der Mittelschicht ums Überleben? Na ja, laut einer Vielzahl anderer Autoren kämpft die Mittelschicht seit Jahrzehnten ums Überleben.


    Außerdem, etwas abseits der reißerischen "Nachrichten"magazine sieht man das differenzierter:
    http://www.iwkoeln.de/de/infod…schicht-ist-stabil-100474


    Dickens hat übrigens nirgendwo geschrieben, daß die Mittelschicht untergeht. Ganz im Gegenteil, er stellt sie wiederholt als die wachsende Schicht, hingegen den alten Adel zeigt er, als dem Untergang geweiht.


    Zitat


    die Art der Darstellung. und die Öffentlichmachung zur Zeit der Veröffentlichung.


    Die Art der Darstellung? Na ja, da gibt es so manches heutztutage, was auch nicht schlechter ist. Werther ist gut, sehr gut sogar, ich lese ihn gern, aber ganz besonderes im Kollektivgedächtnis ist es deswegen geblieben, weil es den Nerv der damaligen Zeit getroffen und viele junge Menschen in den Selbstmord getrieben hat. So wirklich modeübergreifend scheint es aber nicht zu sein.


    Zitat


    Hier vertraue ich einfach der Schwarmintelligenz, die nicht ausschließt, dass das eine oder andere hinten runterfällt.


    Richtig. Aber die Schwarmintelligenz der Zeit, die nach uns kommt. Ihre Einschätzung kann gravierend von der unseren abweichen.

  • Bislang hat in dem Buch noch niemand einen Wert erkennen können; das lässt die Wahrscheinlichkeit, dass es auf die Liste der Alltime-classics kommt gegen null tendieren.


    Auch Jean Paul galt als Schund, seichte Lektüre für unterbeschäftigte und sentimentale adlige Weibchen ...

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen. (Karl Kraus)

  • Dass Klassiker beliebig entstehen, kann auch nicht die Antwort sein und m.W. ist das auch nicht empirisch zu belegen.


    Gruß, Thomas

  • Auch Jean Paul galt als Schund, seichte Lektüre für unterbeschäftigte und sentimentale adlige Weibchen ...


    Woran liegt denn das? Waren die damaligen Kritiker alle dumm oder sind wir heute so dumm so dass er als schwierig empfunden wird?


    Gruß, Thomas

  • PS. Dass Klassiker politisch relevant sein müssen, war zwar die offizielle Einstellung der 68er und wurde deshalb auch lange an Schulen so gelehrt - aber das wird heute hoffentlich keiner mehr ernsthaft behaupten wollen.


    Dass Klassiker beliebig entstehen, kann auch nicht die Antwort sein und m.W. ist das auch nicht empirisch zu belegen.


    Gibt es eine andere Antwort?

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen. (Karl Kraus)

  • Meiner Meinung entsteht ein Klassiker auch dann wenn er Themen aufgreift die auch nah hunderten von Jahren aktuell bleiben und sich nicht zu sehr auf die Themen ihrer eigenen Zeit beschränken.
    Bsp. Shakespeare

  • Woran liegt denn das? Waren die damaligen Kritiker alle dumm oder sind wir heute so dumm so dass er als schwierig empfunden wird?


    Ich empfinde ihn nicht als schwierig ... :breitgrins: :breitgrins: :breitgrins:


    Ich denke, dass sich die heutige Gefühlslage geändert hat. Wir haben Mühe mit der Mischung aus Larmoyanz und Zynismus, die Jean Pauls Figuren zur Schau tragen. Und wir haben generell Mühe mit dem Zurschautragen von Gefühlen.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen. (Karl Kraus)

  • Wenn man alleine daran denkt, wie lange sich diese Diskussion schon durch das Forum zieht (seitdem es Literaturschock gibt - damals noch unter anderem Namen), dann: Nö.. es gibt keine Antwort. Wir werden es auch nicht erfahren, denn in 150 Jahren leben wir alle nicht mehr :breitgrins:


    Ich gebe zu: Der Gedanke, dass ein Buch wie "Shades of Grey" in 150 Jahren noch gelesen wird, dagegen aber vielleicht "Die Eleganz des Igels" in Vergessenheit gerät... erschüttert mich bis ins Mark. Aber ausschließen würde ich ihn trotzdem nicht.

    Rechtsextremismus ist wieder salonfähig gemacht worden, durch CDU/CSU und FDP.

  • Ist Jean Paul nicht eher mit Martin Walser heutzutage zu vergleichen. Auch über ihn gibt es kein einheitliches Urteil und evtl. wird er sich eher durchsetzen als die Nobelpreisträgerin Jelinek. Aber dass "Shades of Grey" sich als Klassiker etablieren wird, ist das wirklich genauso wahrscheinlich wie bei Martin Walser? Ich kann es nicht glauben.


    Gruß, Thomas

  • In England. Wieso wird Dickens aber in Deutschland als Klassiker angesehen? Der Adel hierzulande ist völig vernachlässigbar. Der Kampf der Mittelschicht ums Überleben? Na ja, laut einer Vielzahl anderer Autoren kämpft die Mittelschicht seit Jahrzehnten ums Überleben.


    Außerdem, etwas abseits der reißerischen "Nachrichten"magazine sieht man das differenzierter:
    http://www.iwkoeln.de/de/infod…schicht-ist-stabil-100474


    Dickens hat übrigens nirgendwo geschrieben, daß die Mittelschicht untergeht. Ganz im Gegenteil, er stellt sie wiederholt als die wachsende Schicht, hingegen den alten Adel zeigt er, als dem Untergang geweiht.


    Ich finde es schwierig, wie Du Themen miteinander vermischst. Möchtest Du die Dickens- und Adeldiskussion auf Deutschland oder auf England beziehen? Die Mittelschichtsdiskussion aktuell in Deutschland oder historisch in England? das sind völlig verschiedene Dinge und so wild durcheinander zuargumentieren ist für mich an dieser Stelle sinnlos.


    NB. Die heutige Existenz des britischen Adels belegt zweifelsfrei, dass Dickens sich geirrt hat (wenn er das denn so von sich gegeben hat, das kann ich nicht beurteilen).


  • PS. Dass Klassiker politisch relevant sein müssen, war zwar die offizielle Einstellung der 68er und wurde deshalb auch lange an Schulen so gelehrt - aber das wird heute hoffentlich keiner mehr ernsthaft behaupten wollen.


    Ich - ganz persönlich - fände es schön, wenn Literatur wieder politisch und gesellschaftlich relevant wäre und sich nicht auf distanzierte Teilnahmslosigkeit am Leben zurückziehen würde, wie es leider oft geschieht.

  • Noch mal zu Jean Paul. Zitat aus Wikipedia: "Herder und Wieland allerdings haben ihn geschätzt und unterstützt." Also selbst wenn es die Schundvorwürfe gab, haben ihn andere Intellektuelle unterstützt. Wo gibt es diese Unterstützung für "Shades of Grey"? Ich bin kein Experte hinsichtlich der Rezeption heutiger deutscher Klassiker, aber so einseitig hat man ihn sicher nicht als "Schund" abgetan.


    Gruß, Thomas

  • Woran liegt denn das? Waren die damaligen Kritiker alle dumm oder sind wir heute so dumm so dass er als schwierig empfunden wird?


    Gruß, Thomas


    Es liegt einfach daran, daß die damaligen Kritiker für sich in Anspruch genommen haben, bestimmen zu können, was anspruchsvolle Literatur ist und was nicht. Daß dieser Trend leider auch noch heute anzutreffen ist, kann man schnell in eben dieser Diskussion sehen. Auch hier wird bestimmten Büchern recht hochnässig jedweder Anspruch abgesprochen.


    Darüber, was aus unserer Literatur künftig als Klassik angesehen wird, entscheiden wir nicht, sondern unsere Kinder und Enkel.

  • Gut, ich stimme dir zu, dass wir hier nicht über zukünftige Klassiker entscheiden können. Aber worin die Qualitäten von Shades of Grey liegen, konnte mir bisher auch noch niemand schlüssig aufzeigen. Heute zählt das Werk nicht zu einem (modernen) Kanon. Oder würdest du das ebenfalls anzweifeln?


    Gruß, Thomas

  • Ich - ganz persönlich - fände es schön, wenn Literatur wieder politisch und gesellschaftlich relevant wäre [...]


    Was denn nun wieder sehr langweilig ist. Und mit ein Grund, warum Böll mittlerweile vergessen geht: Politische und gesellschaftliche Relevanz - abgesehen davon, dass diese Begriffe einzeln und im Zusammenspiel erst noch definiert werden müssten - sind kurzlebige Phänomene. Also für potentielle Klassiker absolut ungeeignet.


    Aber dass "Shades of Grey" sich als Klassiker etablieren wird, ist das wirklich genauso wahrscheinlich wie bei Martin Walser? Ich kann es nicht glauben.


    Ich denke doch, dass es weder die eine noch der andere schaffen. Höchstens, als Solitär, die "Ehen in Phillipsburg". Bei Jelinek bin ich hingegen nicht sicher. Ihre Sprache hat was.


    Vor rund 100 Jahren hätten alle darauf gewettet, dass Gustav Freytag und Paul Heyse es in die Liste der immerwährenden Klassiker schaffen würden. Vor 200 Jahren dachte man dasselbe von Theodor Körner.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen. (Karl Kraus)


  • Auch hier wird bestimmten Büchern recht hochnässig jedweder Anspruch abgesprochen.


    Es gibt leider Bücher ohne jeden Anspruch. So wie ich Diplomarbeiten ohne jede Ambition schlechter bewertet habe als die mit Ambitionen. Qualitätsunterschiede kann man festmachen. Es sind natürlich unsere heutigen Maßstäbe. Aber was ist so falsch daran?


    Gruß, Thomas