Hallo zusammen!
Wilkie Collins’ The Woman in White habe ich auch schon als den ersten Kriminalroman der Literaturgeschichte angekündigt gesehen. Wenn statt „Kriminalroman“ da gestanden hätte „Thriller“ wäre ich eventuell sogar einverstanden. Nicht die Suche nach dem Täter steht nämlich bei Collins im Vordergrund (der ist eigentlich von Anfang an klar), sondern die Frage, wie schaffen die Verbrecher es, ihr Verbrechen zu begehen und was unternehmen die „Guten“ dagegen.
Es geht, grob gesagt, um eine reiche Erbin, die um ihr Erbe gebracht werden soll. Täter und Opfer sind also von Anfang an klar, und die Geschichte würde fast darunter leiden, dass die Gute viel zu gut und der Böse viel zu böse ist. Selbst der gute Liebhaber der Erbin bleibt äusserst blass. (Obwohl er - zugegebenermassen - im Laufe der Geschichte einige nicht üble Detektivarbeit leistet.)
Nicht viel besser wird das Ganze durch die Tatsache, dass wir uns im Viktorianischen Zeitalter befinden. Die Erbin ist voller Skrupel, die wir heute kaum nachvollziehen können. Wie oft hätte ich die Lady gern geschüttelt und ihr zugerufen, sich wie ein Mensch zu benehmen! Ich war auch schon drauf und dran, das Buch deswegen definitiv als völlig veraltet wegzulegen.
Gehindert daran haben mich zwei Figuren, die eigentlich beide in der zweiten Reihe agieren sollten, sich aber in den Vordergrund drängten. Da ist die beste Freundin der Erbin, als hässlich und ziemlich unweiblich beschrieben, die – wenigstens teilweise – die Tatkraft aufbringt, welche der Erbin fast völlig fehlt. (Oh, auch die Erbin wehrt sich gegen den Bösewicht – ein einziges Mal, was denn auch die Katastrophe der Geschichte heraufbeschwört!) Und da ist der Sidekick des Bösewichts. Auch er nach üblichen Massstäben keine Schönheit, versteht er es doch, Männlein wie Weiblein (aber vor allem letztere!) in seinen Bann zu ziehen. Und die schon fast emanzipierte beste Freundin ist die erste, die seinen Bann verspürt. Hinter der Viktorianischen Fassade werden plötzlich Abgründe schlecht sublimierter weiblicher Libido sichtbar ...
Faszinierend, wie mein Lieblings-Alien sagen würde …
Grüsse
Sandhofer