Wolfram Fleischhauer - Das Buch in dem die Welt verschwand

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  • Hallo!


    Ich kann mich Saltanah nur anschließen, für mich war das Buch auch sehr unharmonisch. Ja, man kann es wohl als Genrewechsel bezeichnen. Für mich passt der 3. Teil einfach nicht dazu (obwohl er mir der liebste von allen 3 Teilen war, von mir aus könnte das ganze Buch im Stil des 3. Teiles geschrieben sein, dann wäre ich ganz von den Socken :klatschen: )


    Hervorheben möchte ich aber die wunderbare Harmonie zwischen Prolog und Epilog. DAS ist wirklich gelungen und rahmt den Roman richtig gut ein. :sonne:
    Gelernt habe ich viel mit dem Buch, das muss ich sagen, und es hat mir so richtig Lust auf Heine gemacht. 2006 ist ja Heine-Jahr (150.Todestag :rollen: glaub' ich) und Heine ging eigentlich immer bisher an mir vorbei. :rollen:

    :blume:&nbsp; Herzliche Grüße!&nbsp; :blume: <br />creative

  • Hallo Saltanah


    Zitat

    Warum z. B. muss der Abgrund zwischen Nicolai und Magdalena "riesig" sein? Ein einfacher Abgrund wäre für mich völlig ausreichend und gerade durch seine Einfachkeit auch größer, da weniger übertrieben gewesen. Aber wie gesagt ist das meine ganz subjektive Ansicht.


    Dieser Abgrund ist riesig, da Nicolai ganz eindeutig dem Deismus zuzuordnen ist, und Magdalena mehr oder minder dem Pantheismus. (Sie sind Figuren, die eine Art von Religion verkörpern, von Anfang an.)
    Das sind alles kleine Anspielungen und Spitzfindigkeiten, die ich hier auch noch gerne diskutiert hätte.
    Genau wie Wolfram in seinen Gedanken den Islam, der noch absolut im Deismus steckt, vergleicht mit den europäischen Ansichten.

  • @ Saltanah:


    Bei "zusammengepreßten Lippen" kommt es darauf an, wie fest sie zusammengekniffen werden. Aber egal..... :breitgrins:
    Zum Zischen von Sätzen bei "zusammengepreßten Lippen" gehört ohnehin, daß man es aus einem Mundwinkel tut.


    Bei einem Abgrund gibt es immer zwei Aspekte - wie tief und wie weit/breit er ist. Den Ausdruck *riesig* würde ich immer auf die Weite/Breite beziehen, aber nicht auf die Tiefe. Bei einem *einfachen Abgrund* dagegen ist nicht gesagt, wie tief der Riß zwischen zwei Menschen ist und wie weit ihre Positionen dadurch voneinander entfernt sind. :rollen:


    Sollten (gute) historische Romane Deiner Meinung nach auf romantische Szenen verzichten? Warum? Weil sie unnötig sind für den Fortlauf der Handlung und durch Rückfall ins allzu Menschelnde nur von hehren, philosophischen Gedankengängen ablenken? :breitgrins:




    @ Alle:


    Einige bezeichneten die Erotiksequenz als *abgefahren* - wohl wegen der gegensätzlichen Darstellungsweise, eine erotische Handlung en detail zu schildern, sie zugleich aber quasi als durchgeistigte Andacht mit Gebetselementen zu zelebrieren. Es ist natürlich ein schillernder Kontrast - die Protagonisten "poppen" und das auch noch in klischeehaft rustikalem Ambiente, doch die weibliche Sinnlichkeit unterwirft sich nicht willfährig der männlichen Fleischeslust, sondern dominiert sie, indem Frau die Regie übernimmt und Mann zu ihren eigenen Bedingungen verführt.
    Anders als *Saltanah* sehe ich die Erotikepisode nicht als "obligatorische Sexszene", sondern als Schlüsselszene, die die unterschiedliche Weltsicht der Protagonisten skizziert und zugleich auf drastische, exemplarische Weise veranschaulicht, für welche Art von Glauben Eva von Buttlar steht.
    Das Rollenverständnis der Geschlechter hat viel mit Macht zu tun. Auch beim gesellschaftlichen Verständnis von Sexualität spielt Macht eine Rolle. Die Einstellung der Kirche zur Sexualität ist nicht zuletzt eine Machtfrage. Die (katholische) Kirche tut sich bis heute schwer damit, Frauen ein Recht auf sexuelle Selbstbestimmung einzuräumen.
    Diese Machtfragen und auch die Frage nach der weiblichen Emanzipation spielen in diese Schlüsselszene mit hinein. Entscheidend aber ist die Rolle von Magdalena als Anhängerin der Eva von Buttlar. Deren Glaubensansatz lief de facto darauf hinaus, eine Synthese zwischen Verehrung des Göttlichen und natürlichen menschlichen Bedürfnissen zu finden. Im Grunde handelt es sich dabei um Sublimierung. Sexuelle Handlungen finden nicht zum Selbstzweck (Lust, Spaß...) statt, sondern die fleischliche Vereinigung von Mann und Frau wird zum Transportmittel und Katalysator einer veredelten und verfeinerten, inbrünstigen, übersinnlichen Gottes- und Glaubenserfahrung.



    Beim Alter von Nicolai muß man sich die geringere durchschnittliche Lebenserwartung damals vor Augen halten. Ein Mann galt mit 40 Jahren als älterer Mann, hundert Jahre zuvor hätte man ihn bereits als alten Mann gesehen, hundert Jahre später wurde er zum Mann in den besten Jahren und heute kann es einem passieren, in diesem Alter als junger Mann tituliert zu werden. Ein 30jähriger Nicolai wäre unglaubwürdig gewesen für die Art Entwicklung und Erfahrungen, die der Autor seinem Protagonisten zugedacht hat. Vergleicht man mit Zeitgenossen wie Humboldt oder Arnim, wird man feststellen, daß sie mit 16 oder 17 Jahren ihr Studium an der Universität anfingen und mit knapp 20 bereits in Amt und Würden waren. Büchner und Schiller waren nur wenig älter als Nicolai, als sie mit dem Gesetz in Konflikt gerieten und über eine der vielen deutschen Landesgrenzen fliehen mußten.

  • Guten Morgen,


    @wolfram: Mir fehlt momentan leider ein bißchen die Lesezeit und ich bin erst auf Seite 173. Aaaaber: Bisher finde ich das Buch einfach klasse und nun zieren auch schon fast alle anderen Bücher von Dir meine Regale :breitgrins:
    Was mich zu der Frage bringt: Hast Du Spaß an der Leserunde hier und würdest Du auch bei weiteren mitmachen?


    Liebe Grüße
    nimue

    Rechtsextremismus ist wieder salonfähig gemacht worden, durch CDU/CSU und FDP.

  • Zitat von "Tamlin"

    @ Saltanah:
    Bei "zusammengepreßten Lippen" kommt es darauf an, wie fest sie zusammengekniffen werden. Aber egal..... :breitgrins:
    Zum Zischen von Sätzen bei "zusammengepreßten Lippen" gehört ohnehin, daß man es aus einem Mundwinkel tut.

    Ich würde dir einen Selbstversuch empfehlen. Presse deine Lippen zusammen, und versuche, einen Satz zu sprechen. "Zusammengepresst" bedeutet mehr, als einfach den Mund geschlossen zu halten, da ist eine größere Muskelanspannung im Spiel, und 3/4 der Lippen zusammenzupressen, und gleichzeitig einen Mundwinkel so weit zu öffnen, dass ein artikulierter Ton rauskommen kann, gelingt zumindest mir nicht.


    Zitat von "Tamlin"

    Bei einem Abgrund gibt es immer zwei Aspekte - wie tief und wie weit/breit er ist. Den Ausdruck *riesig* würde ich immer auf die Weite/Breite beziehen, aber nicht auf die Tiefe. Bei einem *einfachen Abgrund* dagegen ist nicht gesagt, wie tief der Riß zwischen zwei Menschen ist und wie weit ihre Positionen dadurch voneinander entfernt sind. :rollen:

    Ich schrieb ja, dass das meine subjektive Auffassung ist. Für mich ist ein "normaler" Abgrund größer als ein "riesiger", da ich bei einem "riesig" gleich eine Übertreibung vermute und eine gehörige Portion Größe davon abziehe. Ein nicht weiter beschriebener Abgrund bleibt in seinen Dimensionen der meiner eigenen Vorstellungskraft überlassen, und die reicht aus um festzustellen, dass der Abgrund zwischen den beiden in der Tat enorm ist.


    Zitat von "Tamlin"

    Sollten (gute) historische Romane Deiner Meinung nach auf romantische Szenen verzichten? Warum? Weil sie unnötig sind für den Fortlauf der Handlung und durch Rückfall ins allzu Menschelnde nur von hehren, philosophischen Gedankengängen ablenken? :breitgrins:

    Romantisch? Am romantischsten sind für mich immer noch die alten Beschreibungen mit den ***, die den weiteren Verlauf der (sexuellen) Begegnung meiner - gut entwickelten - Phantasie überlassen. Bei genaueren Darstellungen greift dann leider mein Realitätssinn ein, der, abgesehen von meinem unterentwickelten Hüftschwung, der mir (im Gegensatz zu anderen vielleicht) die beschriebene Entkleidungspraxis unmöglich macht, sofort aufschreit: "Stroh! Das piekst doch!" Das piekst sogar ganz gewaltig, wenn man falsch liegt. Und da man bei s.e.xuellen Aktivitäten eher nicht bewegungslos (und ungepiekst) liegt, könnte die "romantische" Begegnung eine sehr unromantische, schmerzhafte Unterbrechung erfahren.
    Übrigens habe ich vor Jahren mal zusammen mit einem Freund versucht, eine sehr detailliert beschriebene S.e.xszene nachzuspielen. Nach längeren Versuchen, immer neuem Studium der Vorlage, und einem Dialog ungefähr folgendermaßen: "Du musst dein rechtes Bein weiter anwinkeln", "Nein, deine Hand gehört ein Stück weiter nach unten!" und "Und jetzt noch der Mund an diese Stelle, während ich gleichzeitig..." mussten wir feststellen, dass der beschriebene Akt so nur von Schlangenmenschen durchführbar war.
    Ich bin halt unromantisch.
    Zumindest falls man Romantik mit S.e.x gleichsetzt, was ich nicht tue.


    Um auf deine Frage zurückzukommen: meistens finde ich S.e.xszenen nur störend, in den seltensten Fällen sind die ein gut motivierter Bestandteil des Romanes. Oft habe ich den Eindruck, dass dem Autor gerade nichts besseres einfiel, um das Interesse der Leser aufrecht zu erhalten.
    Und da muss ich dir recht geben, dass Fleischhauer doch mit seiner Szene mehr aussagt als "Jetzt wird gepoppt." Sie hat ihre Berechtigung im Roman und sagt einiges über die beiden Hauptpersonen aus. Ich finde es nur schade, dass ein junger Mann und eine junge Frau in der Literatur immer zusammen im Bett/Stroh landen müssen.

    Wir sind irre, also lesen wir!

  • Zitat von "Heidi Hof"

    Ich hoffe, die anderen Mitleser verzeihen eine kurze Frage zu einem anderen Buch von W. Fleischhauer ...


    Frage zu „Drei Minuten mit der Wirklichkeit“:


    Wolfram, du schreibt auf dem Cover, dass du begeisterter Tangotänzer bist.
    Kann es sein, dass du teilweise diesen Tangorhythmus in deine Sprache eingebaut hast? Manche Passagen kommen mir sehr viel „zackiger“ (extrem kurze Sätze, sehr viele Kommas und Einfügungen) vor, als deine sonstige Sprache. Oder entsteht das nur in meiner Phantasie?


    ähm, DAS tät ich auch gern wissen wollen :zwinker:


    Ich war von "3 Minuten mit der Wirklichkeit" vollkommen berauscht, und ich stelle jetzt, nach "meinem 2. Fleischhauer" fest, dass sich Stil, Inhalt etc. in KEINSTER Weise ähneln. Man könnte nie darauf kommen, dass das ein und derselbe Schriftsteller ist! Bravo!!! :klatschen:


    (deshalb bin ich ja jetzt schon so neugierig auf die "anderen", "Die Purpulinie" wartet schon auf dem SUB!)

    :blume:&nbsp; Herzliche Grüße!&nbsp; :blume: <br />creative

    Einmal editiert, zuletzt von ()

  • Ehrlich gesagt, finde ich es sehr traurig, dass hier so viele nur über eine Liebesszene debattieren, obwohl sie in dieser Art sehr uninteressant ist. Interessanter ist es doch vielmehr, dass sich Nicolai überhaupt so angezogen fühlt von Magdalena. Warum?


    Kann es sein, dass diese "rätselhafte" Krankheit, die Vomika, ach wie heißt sie denn gleich, genau die Heimwehkrankheit nicht schon darauf hinweis ... :zwinker::zwinker::zwinker:


    Ihr verzettelt Euch hier in Nichtigkeiten, und seht das Besondere gar nicht :schulterzuck:

  • Hallo
    ich war ein paar Tage sehr beschäftigt, und nun bin ich fast ein wenig überrollt von den vielen unterschiedlichen Kommentaren. Es ist auch gar nicht so einfach, als Autor darauf zu reagieren, schwierig und etwas heikel. Nun gut, ich will es versuchen. Erst mal die einfacheren Fragen:


    Natürlich ist der Tango-Roman in einem ganz anderen Stil. Er spielt heute, die Protagonisten ist eine 19-jährige Tänzerin. Jede Romanwelt hat ihren eigenen Ton. Es dauert immer ein oder zwei Jahre, bis ich diesen Ton gefunden habe, und vorher schreibe ich auch keine Zeile. Und Romane, für die ich den Ton nicht finde, enden in der Schublade.
    Eine Leserunde zum Tango-Roman? Klar, gerne. Aber ich fürchte, da werden die Erotik-Diskussionen dann erst so richtig heißlaufen. Aber dieses Thema lasse ich lieber unkommentiert. Ich mache nur Türen auf, man muß da nicht durchgehen.


    Etwas betroffen gemacht hat mich die Bemerkung zum Genre-Wechsel. Das ist natürlich ein Punkt, der mir sehr am Herzen liegt. Ich halte Genrezwang für fatal. Der Roman ist die Form par excellence, welche sich um Genres nicht zu kümmern braucht. Man kann alles hineinpacken, Lyrik, Verhöre, Philosophie, Kochrezepte. Und Gott sei Dank ist das so. Warum soll ein Mantel-und-Degen-Krimi nicht zu einem religiösen Traktat mutieren? Reines Genre kann man doch kaum noch lesen, oder? Leider gibt es heute so viele Romane, daß Verlage und Buchhändler ohne diese Rezeptionsvorgaben (und das ist ja die Genre-Verpackung) das Publikum nicht mehr zu erreichen glauben. Und das Publikum wird dadurch träge. Sie wollen vorher wissen, was sie lesen. Also bitte. Das kann doch nicht Euer Ernst sein. Ich soll Genre-Romane schreiben? Wozu? Es gibt Tausende. Ach ja, das ist ein weites Feld.


    Nun ja: ich muß natürlich akzeptieren, wenn der Eindruck entsteht, daß mir die Mischung nicht gelungen ist. Ok. Das finde ich dann traurig, aber ich bin ja noch jung, nächstes mal klappt es vielleicht besser...

  • @ Saltanah:


    Ich hatte das artikulierte Zischen aus dem Mundwinkel bei 4/5 zusammengepreßten Lippen ausprobiert, sonst hätte ich das nicht geschrieben. Also..... bei mir ging es. :breitgrins:


    Den Einwand mit dem Stroh kannst Du knicken, da die beiden nicht im Stroh liegen, sondern auf Satteldecken, die auf Stroh liegen. Da Satteldecken sehr dicht gewebt und dick sind, piekst gar nichts. :rollen:


    Deine Idiosynkrasie gegenüber romantischen Konstellationen und erotischen Szenen teile ich nur bedingt. Liebe gehört zu den Zentralmotiven im menschlichen Leben und die Anziehung zwischen den Geschlechtern im Allgemeinen oder zwei Individuen im Besonderen führt entweder oft zu dem Einen und Weiterem oder es geht darum, daß eben das nicht der Fall ist. Hätten Romeo und Julia nur abgeklärt über den Weltfrieden diskutieren wollen, hätten ihre Familien sicher nichts dagegengehabt..... :breitgrins:




    @ Saltanah & Creative:


    Einen Genrewechsel habe ich nur in dem Intermezzo von Nicolais Anstellung bei di Tassi wahrnehmen können. Die Jagd nach den Postkutschenbrennern hatte für mich einen Wildwest-Beigeschmack. Nicolai, der in geheimnisvolle Ereignisse verstrickte und mit Rätseln konfrontierte Arzt als Hilfssheriff, der an di Tassis Rockzipfel hängend durch die Gegend schusselt...? Mit diesem Intermezzo hatte ich so meine Verständnisschwierigkeiten..... :rollen:




    @ Heidi Hof:


    *Bei den meisten Menschen gründet sich der Unglaube in einer Sache auf blinden Glauben in einer anderen.*
    (G.Chr. Lichtenberg)


    Das Warum der (sexuellen) Anziehung zwischen beiden beruht auf Elementen, die in der von Dir für uninteressant gehaltene Liebesszene deutlich zum Ausdruck kommen.
    Magdalena erklärt in diesem Kapitel Nicolai, was es mit Eva von Buttlar auf sich hat. Salopp umschrieben könnte man es als *Seminar mit praktischem Teil* bezeichnen.
    Magdalena verkörpert eine sublimierende, verklärende Sinnlichkeit - die Anziehung liegt für Nicolai in deren Fremdartigkeit. Die Anziehung wurzelt auch in dem Spannungsfeld, sie einerseits besitzen zu wollen, sich andererseits ihr gegenüber aber machtlos zu fühlen. Sie hat ihn (symbolisch) in ihrer Gewalt, nicht umgekehrt.


    Ähnlich selbstständige (emanzipierte) Frauen wie Magdalena gab es zu allen Zeiten, doch da sie meist Angehörige der Oberschicht waren, hatte ein Nicolai wenig Kontakt mit ihnen. Daß Magdalena sich mit ihm abgibt, macht sie allein deshalb schon interessant und anziehend.
    Darüberhinaus umgibt sie durch die Ereignisse, aufgrund derer sie sich kennengelernt haben, eine geheimnisvolle Aura. Sie weckt bei ihm den Beschützerinstinkt, verzichtet aber auf Koketterie und entzieht sich ihm zugleich - weitere Gründe, sich zu ihr hingezogen zu fühlen. Sie ist intelligent, selbstbewußt und sicher in ihren Überzeugungen, was richtig und falsch ist - und sie ordnet sich einem Mann nicht unter. Gründe genug, von ihr fasziniert zu sein.


    Nicolai steht am Wendepunkt zwischen Tradition und Moderne. Er zweifelt am althergebrachten Wissen und steht neuen Erkenntnissen aufgeschlossen gegenüber. Ein Wissenschaftler ist ein Mensch, der Fragen stellt und nach der Wahrheit sucht. Jemand, der wie Magdalena einerseits sehr modern wirkt, andererseits aber fest und beharrlich darauf pocht, daß der Mensch nicht wissen, sondern dem Glauben an göttliche Wahrheit das Primat einräumen soll, ist ein beunruhigender Widerspruch in sich. Es ist anziehend, einem Menschen zu begegnen, der absolute Sicherheit des Glaubens ohne eine Spur von Zweifel sein eigen nennt, denn in der Wissenschaft gibt es keine wirklich absoluten Gewißheiten. Suche nach Wissen versus Sicherheit des Glaubens - unvereinbare Gegensätze, aber Gegensätze ziehen sich ja bekanntlich an..... :breitgrins:

  • Zitat von "Heidi Hof"

    Kann es sein, dass diese "rätselhafte" Krankheit, die Vomika, ach wie heißt sie denn gleich, genau die Heimwehkrankheit nicht schon darauf hinweis ... :zwinker::zwinker::zwinker:


    Jetzt denk ich darüber schon tagelang nach, aber irgendwie find ich keinen Zusammenhang. :confused::confused:

    :blume:&nbsp; Herzliche Grüße!&nbsp; :blume: <br />creative

  • So, ich bin seit gestern abend durch, aber muss da noch länger drüber nachdenken.
    An sich fand ich das Buch sehr gut und auch sehr spannend geschrieben, aber es hat mich nicht mitgerissen, was auch meine unnatürlich lange Lesedauer erklärt. Ich konnte es auch mal einen Tag liegen lassen, obwohl ich es eigentlich als sehr positiv empfunden habe, und es auch nicht langweilig war.


    Das Ende habe ich aber nicht verstanden. Das Buch ist mir klar, auch wenn ich den Gedanken nicht so sehr begreife, also wieso dieser so schlimm ist. Eigentlich verstehen Herr Kant und ich uns ganz gut, aber ich habe diesen Satz irgendwie nicht begriffen. Und die Krankheit gibt mir auch Rätsel auf. Was war denn das jetzt für eine Krankheit? Hatte die überhaupt etwas mit der Idee zu tun? Das ist mir irgendwie zu hoch :redface:


    Und was für ein Geschenk hat Magdalena Nicolai gemacht? *grübel* Dass er sie noch einmal sehen durfte? Dass sie seine Enkelin berührt hat? Ich verstehe es nicht. :redface:

  • Hallo Creative


    Liest du denn auch fleißig den Heine :zwinker:


    Meiner Meinung nach sucht Nicolai den ursrünglichen Glauben (hier wieder Deismus zum Pantheismus), deshalb wird er sehr von Magdalena angezogen. Das ist eine Deutung zu Heimweh.


    Und nach dem dann Kant Gott begraben hat, oder alle die davon erfahren haben und gottlos sind, bekommen das große Heimweh. Zurück zu Gott. Na ja, und werden eben krank, bekommen diese Vomika :zwinker:


    Also ich finde die Idee mit der Vomika, die dann die Heimwehkrankheit heißt, genial. Sie zieht sich durch den ganzen Roman, und ist von Beginn an nur dazu gedacht, dass zum Schluss alles rund ist. Großartig!

  • Haaallo Creative


    Ist dir gar nicht aufgefallen, dass Schmitt "Die Schule ..." das Gleiche sagen möchte wie Fleischhauer mit "Das Buch in dem die Welt verschwand" (vor allem der Titel) :elch:

  • Jetzt will ich auch mal meinen Senf dazu geben:


    Ich fand den Genrewechsel gar nicht schlimm. Genauer gesagt, ist er mir erst richtig bewusst geworden, als ihr es erwähnt habt. Als ich am Ende angelangt war, war das erste was mir in den Sinn kam: anders aber sehr gut.


    Zu der Liebesszene: Insgesamt macht die, glaube ich, eine halbe Seite aus. Darüber kann man doch nicht so lange diskutieren. :breitgrins:


    Zum Schluss: Genial!!!! Auf die Idee, dass es Kant sein kann, bin ich nie gekommen. Und auch als Kant namentlich erwähnt wurde, kam mir nie in den Sinn, dass seine Bücher der Auslöser dieser "Hetzjagd" seien.


    Zusammenfassend muss ich sagen, mir kam das Buch, in dem die Welt dann letzendlich verschwinden soll, zu wenig vor. Es wird am Ende sehr gut erklärt, warum dieses und jenes eben so ist. Meiner Ansicht nach hätte man aber eben dieses Buch schon vorher ins Spiel bringen können, dann wäre auch der Titel passender.


    Ich will auf alle Fälle mehr dieser Art lesen.


    Katrin

  • Zitat von "Heidi Hof"

    Haaallo Creative


    Ist dir gar nicht aufgefallen, dass Schmitt "Die Schule ..." das Gleiche sagen möchte wie Fleischhauer mit "Das Buch in dem die Welt verschwand" (vor allem der Titel) :elch:


    huhu Heidi, jetzt wo du's sagst :pling::pling:

    :blume:&nbsp; Herzliche Grüße!&nbsp; :blume: <br />creative

  • Hallo


    Ich weiß zwar nicht, ob es eine gute Idee ist, wenn ein Autor sein eigenes Buch erklärt, denn das bedeutet ja offensichtlich, daß das Buch nicht gelungen ist. Aber vielleicht ist das hier ein Grenzfall ? Jedenfalls würde ich gerne versuchen, ein paar Mißverständisse auszuräumen bzw. zu nuancieren, um was es mir eigentlich ging.


    Dieser Roman versucht, eine für uns kaum noch nachvollziehbare Denkweise bzw. Sichtweise « erlebbar » zu machen. Er kontrastiert unser Denken, das nach-kantische, rationale, ironisch-zynische, mit mystischem, magischem, religiösen Denken. Daher ist es nur logisch, daß man am Schluß nicht viel versteht, weil man Magdalena von unserer Warte aus nicht verstehen kann. Weil Mystik nicht verstehbar ist. Man kann sie nur erleben, hineinspringen. Sein.


    Die beiden Wege sind unvereinbar. Es gibt schlechterdings keinen Kompromiss dazwischen. Deshalb kann das aufgeklärte, rationale, bürgerliche Denken damit nicht umgehen. Um es zu « verstehen » müsste man die Grundlage, auf der man steht, verlassen. Man müsste das Andere werden. Genaus das will aber die Ratio nicht. Die Ratio hat sich selbst als Gott gesetzt. Sie kann keinen anderen neben sich haben.


    Insofern ist ein Gott, eine Welt verschwunden, als die neue kam. Das « Buch » von Kant fasst das nur zusammen, ist sozusagen hier der Kronzeuge. Aber es gibt zahllose andere Beispiele, in jedem Lebensbereich. Jegliche Metaphysik, jegliche Absolutheit ist verloren. Der moderne Mensch steht immer und überall im Zwilicht, im Kompromiss. Adorno sagt das so : Es gibt kein wahres Leben im Falschen.


    Darum ging es mir. Diesen Unterschied zu zeigen, diese absolut unvereinbaren Wahrheiten, zwischen denen man sich entscheiden muss. Jede bringt eine andere Welt hervor. Beide haben einen Preis, beide sind eine Wette auf das Unendliche. Beide haben ihre großen und ihre ach so kleinen Momente.


    Aber eines steht fest : man MUSS sich entscheiden. Daher habe ich zwei Figuren, die recht radikal ihren Weg gehen. Ich habe in diesem Buch quasi meine eigene Entscheidungsfindung bis an die Grenze getrieben. Und die Lösung ? Nun, für mich als Erzähler kann sie nur lauten : erzähle die Frage. Ich kann sie natürlich im Buch auch nicht lösen. Im Leben werde ich es lösen müssen, wie jeder Mensch. Aber im Buch. Was soll ich da anderes tun, als Nicolai am ende zum Erzähler werden zu lassen, zum Frager. Das ist sein Geschenk. Er wächst zum Erzähler. Er gibt die Frage weiter, an sein Enkelin, in der Hoffnung, daß sie bewußter damit umgehen kann als er, der sie jetzt erst wirklich begreift .
    Die Entscheidung zwischen dem Licht der Aufklärung und dem Licht des Glaubens ist ja in jeder Menschheitsfrage immer wieder da. Im Großen sowieso, also bei Gentechnik, Cloning, die Zerstörung unserer Lebensgrundlage für « Wachstum » etc. Man muss ja nur die Zeitung aufschlagen, um einen Blick in die Hölle zu werfen.


    Jetzt die « Vomika » : Grundidee des Romans war : Gedanken, Ideen sind real, so real wie Viren oder Bazillen. Sie können heilen oder töten, je nach dem. Gedanken und Ideen sind gefährlich, jedes wichtige Buch ist eine Art geistiger Freilandversuch.


    Gedanken sollen frei sein, sagt der Aufklärer. Raus in die Welt mit ihnen. Aber was ist mit Ideen, die so groß sind, daß ein einzelner die Verantwortung dafür gar nicht übernehmen kann. Die Atombombe, die Möglichkeit des Clonens. Egal, sagt der Aufklärer. Es muss in die Welt. Die Welt wird entscheiden. Nein, sagt der religiöse Mensch. Es « vernichtet » diese Welt. Es gibt eine Grenze, eine Autorität, vor der wir innehalten, uns beugen müssen : unser Gewissen, unser intuitives Wissen. Wir müssen bisweilen auf das Machbare verzichten.
    Zensur, schreit der Aufklärer. Das ist Totalitär.
    Ebenso totalitär ist der neue Gedanke, sagt der religiöse Mensch. Niemand wird der Versuchung widerstehen können, ihn zu denken, ihn zu realisieren. Er wird die Welt TOTAL verändern. Denn er kann nicht zurückgenommen werden. Er ist ansteckend, verbreitete sich in windeseile überall hin. Wie kann man damit so leichtfertig umgehen ?
    Es ist immer wieder das gleiche Dilemma. Erst moralisches Wachstum, sagt der ein, dann kommt der « fortschritt » von selbst, bzw. er wird wahrscheinlich überflüssig, weil man einsieht, dass man das alles gar nicht braucht. Nein, sagte der andere, es ist genau umgekehrt.
    Ich vereinfache natürlich. Ich könnte glatt noch ein Buch darüber schreiben, aber das ist ja nicht der Sinn dieser Übung.


    Jetzt die « Vomika », die Heimwehkrankheit. Sie ist ein Symptom für diese Melancholie des geschichtlichen Abschieds von der magischen, mystischen Weltsicht, die mit Kant endgültig zu Ende geht. Es gibt auch keinen Weg zurück. Kleist sagte nach seiner Kant-Lektüre, er habe das Gefühl, man habe ihm die Augenlider weggeschnitten. Die ganze Romantik lebt von diesem Phantomschmerz, dieser Amputation der Metaphysik. Die Vomika « gab es », insofern es eben viele Menschen gab, die damals an « Heimweh » gestorben sind. Heute würde man sagen : Schwermut, Depression, Magersucht, bestimmte psychosomatische Krebsarten etc. Krankheit ist immer auch eine Vorstellung von Krankheit. Diese Leute spürten diese Idee, die da in die Welt kam. Sie hatten keine Begriffe für das, was da geschah. Kant hat es ja erst formulieren müssen. Aber sie litten daran. Sie hatten im wahrsten Sinne des Wortes Weltschmerz, Schmerz über eine Welt, die verschwindet. Interessanterweise verschwindet diese Krankheit um 1790 aus den Medizinbüchern. Klar, wo es kein Heim, keine metaphysische Behaustheit mehr gibt, kann es auch kein Heimweh mehr geben.


    Da stehen wir jetzt. Das ganze hat ja gerade erst angefangen. Wir sind mitten drin in diesem Schlamassel. Ich habe nur versucht, das Erdbeben von damals nochmal zu erzählen, erlebbar zu machen. Denn wir kennen nur die veränderte Landschaft. Diese Erschütterung hat uns hervorgebracht.
    Der moderne Mensch lebt in einer Welt ohne Sinn, und er stirbt ohne Sinn. Das ist sein Drama. Er muß Sinn laufend erzeugen und glaubt gleichzeitig an keinen. Auch der Tod hat keinen Sinn, daher die ganzen symbolischen Überlebensstrategien : berühmt werden, jung bleiben, ist ja alles bekannt. Das bestimmmt das Über-Leben im Westen. Denjenigen, die das durchschauen, bleibt nur noch Verdrängung, Drogen oder Akzeptanz in Form von Selbstmord. Religion ist als Ausweg nicht mehr möglich. Das Organ dafür haben wir einfach nicht mehr. Es ist verschwunden, wegmutiert.


    Das ist vermutlich die eigentliche Herausforderung : was machen wir jetzt, wo das alte nicht mehr geht, und das neue irgendwie unerträglich ist. Tja, daran sitze ich gerade. Was jetzt ? Die Welt wiederverzaubern wie die Esoterik-Sekten? Aber wie, ohne Gefahr zu laufen, sie zu verhexen, wie fast alle Religionen es immer wieder getan haben? Oder Houellebcq lesen und sich trösten, daß es ja allen so geht und man wenigstens nicht allein ist mit seinem Zynismus ?



    Vielen herzlichen Dank für Euere vielen Kommentare, Bemerkungen und Anregungen und ich bitte um Verzeihung, dass ich so allgemein antworte und nicht auf einzelne, teilweise wie ich finde sehr kluge Beiträge reagiere. Mir fehlt einfach die Zeit und auch die Knöpfe zu bedienen ist nicht so ganz einfach.


    Nun denn, vielleicht bis zum nächsten Buch,


    Herzlichst


    Euer Wolfram

  • Danke Wolfram :klatschen:


    Ich finde viele meiner Gedanken dadurch bestätigt, und das macht mich sehr glücklich :smile:
    Freue mich schon wahnsinnig auf dein neues Buch, aber ich habe zum Glück noch die "Purpurlinie" ungelesen im Regal stehen :winken:

  • Ich habe "Das Buch in dem die Welt verschwand" vor knapp einem Jahr gelesen und daher diese Leserunde aufmerksam verfolgt.
    Ich werde das Buch nochmal lesen, ich denke es gibt in diesem Buch viel zu entdecken, auch wurden mir hier neue Denkanstöße für die Lektüre gegeben.


    @ Wolfram
    Das Buch erschließt sich nicht so einfach, egal aus welchen Gründen.
    Ich weiß nicht ob es nötig ist daß du dein Buch nocheinmal erklärst, aber es wäre vielleicht hilfreich gewesen in einem Nachwort o.ä. Quellen (Hilfslektüre) zu nennen die einem Hintergründe liefern können, um die Zeit in der der Roman spielt besser zu verstehen (sofern der Leser dies möchte).
    Es muß ja nicht in einer "Doktorarbeit" ausarten, aber ich habe mir aufgrund dieser Leserunde nun "H. Heine - Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland" gekauft als kleine Hilfestellung zu dem Buch.


    Aufgrund dieser Leserunde und eines (wie ich finde) sehr symphatischen Autors habe ich nun auch "Die Purpurlinie" auf meinem SUB.

  • Danke für die Erklärung, Wolfram, mich hat sie eigentlich auch nur bestätigt! :winken:
    Der Genrewechsel war mir garnicht wirklich bewusst...
    Naja, mich hat es jedenfalls nicht gestört. Bin auch schon gespannt auf mehr von dir!

    [size=9px]&quot;I can believe anything, provided that it is quite incredible.&quot;<br />~&quot;The picture of Dorian Gray&quot;by Oscar Wilde~<br /><br />:leserin: <br />Henry Fielding - Tom Jones<br /><br />Tad Williams - The Dragonbone Chair<br /><br />Mark Twai

  • Hallo!


    Danke @wolfram für die Erläuterungen. Nun wird mir schon vieles klarer! Besonders die Umstände rund um die "Heimwehkrankheit" finde ich sehr schön.


    Ich muss wirklich sagen, ein sehr durchdachtes, anspruchsvolles Buch! Die Thematik beschäftigt mich sehr, viele Gedanken, die du schilderst, spielen auch in meinem Leben eine große Rolle.


    Ja, das Leben besteht aus Kompromissen und Entscheidungen. Ich versuche, einen Kompromiss dieser beiden "Welten" zu finden, aber, wie du schon schreibst, es ist unmöglich. Einerseits begrüßen wir den Fortschritt, die Errungenschaften der Gentechnik (weil sie vielleicht einen guten Freund vor dem sicheren frühen Krebstod bewahrten), auf der anderen Seite verdammen wir sie.


    Ich glaube, dass die Menschheit dem Fortschritt in Technik und Wissenschaft nicht gewachsen ist. Sie wird überrumpelt und kann nicht sorgsam damit umgehen. Der Mensch hat vieles selber in der Hand, Egoismus, Rücksichtslosigkeit und Macht spielen eine große Rolle. Ich glaube sowieso, dass sich die Menschheit langsam aber sicher selber umbringt. :sauer:


    Die Esoterik macht natürlich ein großes Geschäft damit, was wiederum bestätigt, dass ja rein grundsätzlich die Sehnsucht nach "Höherem, Übersinnlichem" besteht. :sonne:


    Ich hoffe für uns alle, dass wir wieder zu mehr Ruhe finden und das Wesentliche im Leben erkennen!!

    :blume:&nbsp; Herzliche Grüße!&nbsp; :blume: <br />creative